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Die Mitte der Gesellschaft

     Die Mitte der Gesellschaft als politisches Objekt 

Die Mitte der Gesellschaft wird von den meisten Parteien von den Grünen bis zur AfD umworben. Jede Partei, die das Ziel hat zu wachsen und an sozialem und diskursivem Einfluss zu gewinnen, richtet sich an die Mitte der Gesellschaft, da die Ränder naturgemäß an ihrem äußeren Rand begrenzt sind. Parteien und andere politisch ausgerichtete Organisationen haben in aller Regel ein definierteres Weltbild als "die Gesellschaft" oder auch nur Teile der Gesellschaft. "Wahlen werden in der Mitte gewonnen" ist mittlerweile zum geflügelten Satz im politischen Diskurs geworden. Die Notwendigkeit für Parteien besteht folglich darin, sich selbst zu mäßigen, um außerhalb ihrer "indigenen" Wählerschaft Anklang zu finden. 

     Die Mitte der Gesellschaft als soziales Subjekt 

Tatsächlich ist die Mitte der Gesellschaft wesentlich darüber definiert, dass sie nicht politisiert ist. Sie hat keine politische Identität wie viele am Rand. Sie ist nur politisch interessiert oder gar unpolitisch, ist nicht ideologisch, nicht übermäßig religiös, nicht globalistisch oder nationalistisch. Sie ist diskursfähig und anschlussfähig und lässt sich von rationalen Argumenten überzeugen, weil sie sich nach einem friedlichen Miteinander sehnt. Sie wahrt den Anschein, mit allen Menschen klarkommen zu wollen. Sie ist auch tatsächlich nicht angewidert von Andersdenkenden und Andersartigen, so wie es bei Menschen an den Rändern oft ist. Weil sie in sozialen Kategorien denkt, nicht in politischen. 

Die Mitte der Gesellschaft sehnt sich nach der Abwesenheit der großen Politik, hätte lieber eine nüchterne, sparsame Verwaltung als die umfassenden Transformationswünsche von Politikern, Parteien und Thinktanks. 

     Niemand in der Mitte sieht sich selbst als Mitte. Das ist eine politische Zuschreibung. Die Mitte der Gesellschaft hat eine soziale Identität als "normal". 

     Die politische Erreichbarkeit der Mitte 

Die Mitte der Gesellschaft ist nicht dogmatisch oder ideologisch erreichbar, sondern nur über pragmatische Realpolitik. Mehrere Parteien bezeichnen sich als "Partei der Mitte" und sprechen ihre Wählerschaft als "die Mitte der Gesellschaft" an. Aber dies ist eine politische Betrachtungsweise der Gesellschaft, mit der sich die Angesprochenen nicht angesprochen fühlen.

     Zur Bundestagswahl 2021 hat die AfD eine Kampagne gestartet, die "Deutschland aber normal" lautete. Zwar hatte die AfD im Vergleich zur vorangegangenen Bundestagswahl Wähler verloren, aber das Image als Partei "für normale Leute" hat sich nachhaltig verfestigt und die ideologischen Komponenten ihrer Politik werden zunehmend von pragmatischen Narrativen über "die hart arbeitenden Leute" und Alltagsthemen wie Inflation und Leistungsgerechtigkeit überlagert. Sie ist die einzige Partei (zusammen mit den Freien Wählern), die die Mitte der Gesellschaft entsprechend ihrer Selbstempfindung als "normale Leute" anspricht. Das macht die Partei nachhaltig erfolgreich. 

Die Mitte der Gesellschaft wird mit ihrer relativen Unpolitisiertheit eigentlich nicht repräsentiert. Die Parteiendemokratie verlangt von jedem Bürger, dass er eine dezidierte politische Meinung haben muss, um repräsentationsfähig zu sein. Sie akzeptiert nicht, dass jemand einfach nur sein privates Leben leben will ohne mit der Politik in Berührung zu kommen. Die Politisierten akzeptieren das Prinzip, dass sie bei nicht gegebenen Mehrheitsverhältnissen von anderen Parteien regiert werden, als demokratie-intrinsisch -- mit der Hoffnung darauf, dass sich eines Tages die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten ändern; die Unpolitisierten hingegen ertragen seit jeher die Politisiertheit des öffentlichen Raumes ohne den Anspruch auf Abwesenheit von (ideologischer oder dogmatischer) Politik zu stellen. In der Demokratie ist kein Platz für Unpolitisiertheit. Das System und der Diskurs verlangen von jedem Bürger eine Meinung zu haben, nur so hat er Anspruch auf Repräsentation; ansonsten muss er ertragen was geschieht, weil er sich vorher nicht für die eine oder die andere Seite entschieden hat. 

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Die politische 

März 2024 

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