Wählerwanderung
1. Verschiebungen im Wählerspektrum seit 2012

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Die Grafik zeigt die Umfrage-Ergebnisse des Meinungsforschungsinstituts INSA der vergangenen zehn Jahre. Die Daten sind hier über einen jeweils mehrwöchigen Zeitraum interpoliert und gleichen damit kleine Fluktuationen und Fehlerquoten aus, um Extremereignisse zu verdeutlichen und anhand derer die Entstehung von Wählerverschiebungen sichtbar zu machen. Es lassen sich folglich deutlich die Verschiebungen im Parteienspektrum ablesen, die durch eine veränderte strategische Ausrichtung und neue Personalien ebenso wie fehlerhaftes Verhalten ausgelöst wurden. Der untere Teil der Grafik zeigt dabei an, welche Partei zur selben Zeit Wähler verloren hat, wie eine andere Partei Wähler gewonnen hat, ein kausaler Zusammenhang ist dadurch nicht zwangsläufig gegeben; so ist kaum vorstellbar, dass Grünen-Wähler zur AfD überlaufen.
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CDU: Die CDU hat in der Corona-Zeit enorm Wähler hinzugewonnen -- sowohl von denjenigen Parteien, die die Corona-Maßnahmen kritisch sahen (wie FDP und AfD) als auch von denjenigen Parteien, die diese Maßnahmen deutlich befürwortet haben (wie die Grünen), da sie sich als realpolitische agierend dargestellt hat.
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SPD: Die SPD erleidet seit über zehn Jahren einen kontinuierlichen Wählerschwund. Dieser wurde nur durch zwei personelle Ereignisse unterbrochen: die Kanzlerkandidaten Schulz (2017) und Scholz (2021). Nach diesen personellen Hypes setzte sich der Niedergang auf den vorherigen Niveaus fort. In den fünf Jahren ab 2015 hat die SPD gleichzeitig nach Neulinks und nach Neurechts Wähler verloren.
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AfD: Es ist auch die Geschichte der politischen Ausrichtung der AfD klar abzulesen: Bis Sommer 2015 hat die AfD mit einem wirtschaftsliberalen Kurs vor allem von der FDP Wähler gewonnen; ab der damaligen Spaltung der Partei gab es Austausch vor allem mit den Regierungsparteien der GroKo. In den zwei Jahren der Corona-Zeit stand sie so sehr außerhalb des allgemeinen Meinungskorridors, dass sie gar keinen Wähleraustausch mit anderen Parteien mehr gab. Mit Beginn der Ampel-Regierung verzeichnet die Partei einen enormen Wählerzuwachs, der nicht mit dem Ende der Corona-Zeit oder dem Beginn des Ukraine-Kriegs zeitlich korreliert, sondern mit der hohen Inflation und der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung. Die Ampelregierung hat die Opposition rechts von ihr deutlich gestärkt, vor allem die AfD. Bemerkenswert ist, dass dieser Aufstieg ab Sommer 2022 zeitweise zulasten aller anderen Parteien war (einschließlich der Grünen), d.h. dass es zum ersten Mal eine so fundamentale Verärgerung in der Bevölkerung über den Zustand des Landes und daraus folgenden Meinungsumschwung in der Bevölkerung gab, dass für alle Wechselwähler einzig die AfD in Frage kam.
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Grüne: Die Grünen haben im Laufe der vergangenen zehn Jahre (zusammen mit der SPD) die deutlichsten Schwankungen in der Wählerzustimmung erlebt: zwischen 6% und 26%. Es sind Extremwerte zu Zeiten zu erkennen, wo ihre Kernthemen Klima und Migration Konjunktur oder keine Konjunktur mehr hatten (Anm.: auch beim Thema Atomkraft 2011 hatten die Grünen Spitzenwerte über 25%). Wähleraustausch findet am deutlichsten mit der SPD statt.
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FPD: Die FDP hat um die Bundestagswahlen 2017 und 2021 ihre höchsten Umfragewerte erreicht. Dabei sind die deutlichsten Wähleraustausche immer wieder mit der AfD zu beobachten. Seit Beginn der Ampelregierung sinken die Werte deutlich, ebenso wie bei den beiden Koalitionspartnern.
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Linke: Die Linke ist seit 2018 in einem kontinuierlichen Abwärtstrend. Da sie mit ihrem Meinungsspektrum stark eingeengt ist, hat sie Wähleraustausch ausschließlich mit der SPD und Grünen. Insgesamt hat die Linke über den ganzen Zeitraum betrachtet die geringste Fluktuation in der Wählerschaft und hatte in diesem Zehnjahreszeitraum gerade mal eine Schwankung von 7 Prozentpunkten.
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BSW: Das BSW profitiert vor allem vom Niedergang der Linken. Zeitgleich mit ihrer Gründung sind aber auch die Werte der AfD dramatisch gesunken. Zur selben Zeit ist das sog. "Potsdamer Treffen" von u.a. AfD-Mitgliedern publik geworden, weshalb sich viele Wähler von der AfD abgewendet haben und möglicherweise durch zeitlichen Zufall nun das BSW als Alternative entdeckt haben.
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Insgesamt zeigt sich, dass die vier Mitte-Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne) ein hohes Maß an Wählerwanderung untereinander haben. Es kann daraus gedeutet werden, dass ebenjene 80 Prozent die Mitte der Gesellschaft darstellen, die politisch-inhaltlich vergleichsweise nahe beieinander liegt und bei denen nicht ein ideologischer oder dogmatischer Standpunkt über die Wahlentscheidung entscheidet, sondern das allgemeine Auftreten und die Personalien einer jeweiligen Mitte-Partei. An den Umfragen der vergangenen zwei Jahre im Vergleich zu den Jahren davor lässt sich daher ein neuer gesellschaftlicher Bruch ablesen: der zwischen der Mitte der Gesellschaft und dem Rand/ den Rändern, die mehr Wert darauf legen, auf ihrem Standpunkt zu beharren.
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Ab Ende der Corona-Zeit bzw. seit Bestehen der Ampel-Regierung im Sommer 2023 zeigt sich ein neues Phänomen: Eine Partei (AfD) kann auf Kosten fast aller anderen Parteien stark hinzugewinnen (sowohl der drei Regierungsparteien als auch der CSU/CSU). Damit manifestiert sich eine Strategie dieser Parteien, sich als Bollwerk gegen die AfD darzustellen. Dies führt in der Konsequenz zu einer Dichotomie zwischen "die AfD" und "die Anderen", wodurch selbst die CDU als mitverantwortlich für eine schlechte Politik der Ampel-Regierung betrachtet wird und in Umfragen verliert. Diese Strategie der Dichotomie kehrt sich nun zum Nachteil dieser Parteien.
2. Wählerpotenziale




Datenquelle: INSA
Anmerkung zum Lesen der Grafiken: "Sonntagsfrage" bezeichnet die in Medien regelmäßig veröffentlichten Daten zur Frage "Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?". Darunter befinden sich Wähler, die sich ihrer Wahlentscheidung absolut sicher sind (Nicht zu verwechseln mit "Stammwählern"). Der rote Graph "unausgeschöpftes Potenzial" stellt Wähler dar, die eine andere Partei wählen wollen, aber sich grundsätzlich vorstellen könnten, die jeweilige Partei zu wählen. Diese Wähler sind also für die jeweilige Partei relativ leicht durch Umwerbung zu gewinnen.
Bei jeder Partei sind sich zwischen einem Drittel und zwei Dritteln der Wähler ihrer Wahlentscheidung sicher. Dabei steigt der Anteil der definitiv sicheren Wähler mit den allgemeinen Umfrageergebnissen und sinkt mit ihnen.
Die zusätzlichen Potenziale (in den Grafiken die rote Linie) liegen für die vier Mitte-Partei bei15 bis 25 Prozentpunkten. Bei den Randparteien jedoch deutlich weniger: AfD und die Linke hat zusätzliches Potenzial von jeweils etwa zehn Prozentpunkten. Bei den vier Mitte-Parteien sind die Schwankungen deutlich niedriger als bei den Randparteien. Während die Linke seit Jahren an Potenzial verliert, erlebt die AfD im Frühling 2023 erstmals seit fünf Jahren eine deutliche Steigerung ihres Wählerpotenzials.
Die Umfragewerte der Sonntagsfrage und der Anteil der darunter absolut sicheren Wähler schwanken hingegen deutlich. Als zu Beginn der Corona-Krise ab Anfang 2020 die Umfragewerte von CDU/CSU um zehn Prozentpunkte stiegen, blieb der Wert der grundsätzlich Zugeneigten, die aber nicht Union wählen wollten, konstant bei etwa 15 Prozent. Das heißt, dass Parteien bei positivem Verhalten nicht nur aus ihrem eigenen bestehenden Wählerpotenzial schöpfen, sondern auch neues Potenzial von bisher gar nicht zugeneigten Wählern generieren. Das heißt: Positives Verhalten einer Partei bewirkt nicht nur ein sichtbares Wählerwachstum, sondern steigert auch die unterschwellige Zuneigung in der Bevölkerung. Aus dieser kann im späteren Verlauf Wählerschaft generiert werden.
Das höchste unausgeschöpfte Wählerpotenzial hat die FDP. Nur etwa ein Drittel der grundsätzlich zugeneigten Bevölkerung haben tatsächlich vor FDP zu wählen. Bei der Linken ist das zusätzliche Wählerpotenzial ähnlich hoch. Die AfD demgegenüber hat ihr Wählerpotenzial zum Großteil bereits ausgeschöpft.
Am deutlichsten ist die Verschiebung bei den Grünen, die zu Beginn von Corona zur Hochzeit von "Fridays for Future" ein Gesamtpotenzial von 45% hatten, das sich bis September 2024 fast halbiert hat. Auch die Linke hat in den vergangenen sechs Jahren ihr Gesamtpotenzial halbiert. Das neugegründete BSW hat in den vergangenen Monaten deutlich steigende Umfragewerte und auch das Potenzial steigt deutlich, je mehr die Bevölkerung die politischen Anliegen und Personal des BSW kennenlernt.
Insgesamt hat sich das Gesamtpotenzial deutlich nach kulturell rechts verschoben: Hatten CDU/CSU und AfD zu Beginn der Ampel-Regierung noch ein Gesamtpotenzial von zusammengerechnet 55%, so liegt es mittlerweile bei 80%. Währenddessen ist das Gesamtpotenzial der kulturell linken Parteien SPD, Grüne und Linke von aufsummiert 110% auf 70% gesunken.
3. Definitive Ablehnung

Datenquelle: INSA
Frage: "Und welche der folgenden Parteien können Sie sich grundsätzlich gar nicht vorstellen zu wählen?"
Mehrere Jahre lang wurden fast alle großen Parteien von einen Drittel bis einem Viertel der Bevölkerung definitiv abgelehnt; nur die AfD wurde von bis zu drei Viertel der Bevölkerung entschieden abgelehnt.
Dabei haben die drei Parteien des Bonner Konsens (CDU/CSU, SPD, FDP) über den Zeitraum der letzten sechs Jahre eine stabile Ablehnungsquote von 20% bis 30%.
Bei den drei jüngeren Parteien hat sich derweil die Ablehnungsquote kontinuierlich geändert: Grüne und Linke werden immer unbeliebter, die AfD wird kontinuierlich weniger abgelehnt. Obwohl die AfD heute politisch wie sozial deutlich isolierter ist als vor einigen Jahren und durch viel randständigere Personen und Positionen gekennzeichnet ist, gibt es immer weniger Gegner. Da die Parteien einzeln explizit abgefragt werden, liegt diese Entwicklung nicht darin begründet, dass die Befragten die AfD zunehmend vergessen hätten, sondern sie nennen die Partei bewusst nicht. Stattdessen werden Grüne und Linke deutlich häufiger explizit genannt. Diese wöchentliche Erhebung bestätigt daher die grundsätzliche Diskursverschiebung von kulturell links zu kulturell rechts.
Die Freien Wähler haben eine sehr geringe Ablehnungsquote -- vermutlich, da ihre lokalistische Politik wenig polarisiert. Auch das BSW als jüngste Partei hat eine relativ niedrige Ablehnungsquote.
Anm.: Der Bruch Ende 2022, der bei fast allen Parteien sehr deutlich auftritt, ist vermutlich statistischer Natur, da zur selben Zeit kein politisches oder gesellschaftliches Großereignis stattgefunden hat, das diesen Bruch erklären könnte.