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Der große Konflikt
Der große gesellschaftliche Konflikt in den politisierten westlichen Gesellschaften ist nicht mehr derjenige zwischen Links und Rechts. Es ist ein Konflikt zwischen der Mitte der Gesellschaft und den Rändern. Je nach Betrachtungsweise kann man etwa 80 Prozent der Bevölkerung der Mitte der Gesellschaft zurechnen. Parteipolitisch betrachtet sind sie heutzutage Wähler von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie vergleichsweise gering politisiert ist und am liebsten von der ideologischen und dogmatischen Politik in Ruhe gelassen werden will. Politik -- das sind die Probleme anderer Leute. Diese Probleme finden im Wesentlichen in den Medien statt und nicht im eigenen Umfeld. Menschen aus der Mitte der Gesellschaft haben Familie und soziale Kontakte und daher kein Interesse sich mit abstrakten politischen Problemen zu beschäftigen. Die Mitte der Gesellschaft steht im Wesentlichen in einem (!) Diskurs, in dem grundsätzliche Ansichten zur Welt und den Phänomenen in ihr geteilt werden und nur an Schattierungen gefeilt wird. Dieser Diskurs orientiert sich wesentlich an den Leitmedien. Daher besteht eine Synergie zwischen den großen medialen Diskursen, den Diskursen in der Mitte der Gesellschaft und der Politik der Parteien der Mitte. Alle sind im Wesentlichen saturiert und mit den bestehenden Zuständen zufrieden. Die Mitte der Gesellschaft strebt nach nichts mehr als nach allgemeiner Anerkennung, danach, sich bloß keinen schlechten Ruf zuzuziehen und lehnt daher alles ab, was randständig erscheint.
Wer nicht zur Mitte der Gesellschaft gehört sind im Wesentlichen Wähler von AfD und Linke sowie Nichtwähler. Sie interessieren sich sehr für Politik (bzw. im Falle der Nichtwähler haben sie gar kein Interesse an der Gesellschaft) und wünschen sich tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Sie wünschen sich in eine Gesellschaft integriert zu werden, die sie bisher ausgestoßen und abgestoßen hat und der sie mit Missmut gegenüberstehen. Sie sehen das Fehlverhalten nicht bei bei selbst, sondern bei der Intoleranz einer Gesellschaft, die ihre Anliegen nicht versteht und daher abweist. Sie sind grundsätzlich skeptisch gegenüber den Diskursen, die in den Leitmedien, in der Mitte der Gesellschaft und in der regierenden Politik geführt werden, nutzen Informationsquellen, derer sich die Mitte der Gesellschaft nicht bedienen würde.
Zu den Wählerschaften: Nachdem FDP und CDU/CSU erkannt haben, dass sich die AfD im Mitte-Rechts-Spektrum neben ihnen etabliert und die national orientierten Teile ihrer bisherigen Wählerschaften dauerhaft an sich gebunden hat, haben sich diese beiden Parteien strategisch neu orientiert und ihre rechtsliberalen und rechtskonservativen Mitglieder wie Wähler verstoßen und abgestoßen. Diese Teile ihrer Wählerschaften standen bereits vor einigen Jahren nicht mehr im Zeitgeist und ihnen war auch das Schreiten in die Zukunft nicht mehr zu vermitteln. Es ist eine anstrengende Wählerschaft, die sich nun bei der AfD zusammen-gefunden hat. Trotz des prozentualen Wählerverlusts scheint es von diesen Parteien insgesamt positiv betrachtet zu werden, nun mit einer verhandlungsfähigen Wählerschaft der Mitte regieren zu können. Nur dadurch hatte die FDP in den vergangenen Jahren die Möglichkeit vollständig in die Mitte zu rücken, was sich in der neuen Sitzordnung im Bundestag versinnbildlicht und ihr die Option eröffnete mit zwei "linken" Parteien eine Regierung zu formen. Auch die CDU hat verstanden, dass es als positiv zu bewerten ist, die anstrengende rechte Wählerschaft endgültig abgestoßen zu haben und sie hat erkannt, dass es sich nicht lohnt sich um diese verloren gegangene Wählerschaft zu bemühen. Denn: Keine Partei hat eine derart hohe Bindungskraft gegenüber ihren Wählern wie die AfD, die trotz aller Skandale und trotz des gesellschaftlich vernichtend schlechten Rufs der Partei treu bleiben. Stattdessen haben CDU und FDP sich entschlossen sich vollends auf die Mitte der Gesellschaft zu konzentrieren; die Wähler der Mitte verhalten sich gesittet, sind im Wesentlichen materiell und ideell saturiert und mit händelbaren Maßnahmen zufrieden zu stellen; sie leben ihr Leben und lassen die Regierung regieren; ein Volk, das keinen Ärger macht -- sie sind managebar. Aus Sicht einer Regierung ist es also nur klug den Fortbestand der AfD zu gewährleisten: Ein Großteil der denkbaren Kritik an der Regierung sammelt sich bei der AfD und wird dadurch ungültig. Sie in einem Stadium zwischen Abschreckung und Akzeptanz zu halten, sodass sie nicht vollends ins Außergesellschaftliche driftet und damit ihr Schreckenspotenzial verliert und zugleich immer noch ein gewisses Potenzial hat die Bevölkerung hinter der Regierung zu versammeln, um den Schrecken abzuwenden, ist also nur zum Nutzen der Regierung. Es ist nicht ersichtlich, ob die AfD die Fäden an ihren Armen bemerkt hat ;-D
In dieser Gesellschaft besteht ein weiterer Konflikt: ein emotionaler. Alle Menschen haben ein Innerstes, Gefühle, die sie zu schützen suchen. Die Menschen versuchen diesen Schutz aber auf zwei verschiedene Weisen zu erreichen, die durch unterschiedliche Persönlichkeiten und Kindheitserlebnisse geprägt sind. Die einen schützen ihr Innerstes durch einen Panzer, den sie um sich herum aufgebaut haben. Unter ihnen sind häufiger Introvertierte; sie offenbaren ihre Emotionen nicht und halten sich auch mit Erzählungen aus ihrer Vergangenheit und von ihren persönlichen Erlebnissen zurück. Sie schätzen Privatsphäre, Familie und Häuslichkeit. Diese Menschen finden sich häufiger im Mitte-Rechts-Spektrum.
Der andere Typus versucht sein Innerstes zu schützen, indem er viel von sich offenbart, um sich dadurch weniger angreifbar zu machen. Wer nichts zu verbergen hat, hat auch keine Erpressung zu befürchten. Diese Menschen sind eher extrovertiert, treten entsprechend auch äußerlich durch auffällige Kleidung auf, mögen das unstete Leben und neue Erfahrungen, lernen gerne neue Menschen kennen. Sie geben Küsschen links, Küsschen rechts und sprechen angeregt über oberflächliche Dinge. Diese Menschen finden sich häufiger im Mitte-Links-Spektrum.
Dieser gesellschaftliche Konflikt zwischen diesen Menschen, die sich als emotional in Szene setzen und jenen Menschen, die sich als rational in Szene setzen, besteht weiterhin, jedoch werden diejenigen, die sich emotional kühl präsentieren, zunehmend aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Es ist eine feinfühlige Welt geworden, in der ein emotional berührter Reporter gerne gesehen ist und Aufmerksamkeit erzeugt, während ein emotional disziplinierter Offizier als uncool und nicht der Rede wert betrachtet wird.
Hierin besteht das politische Dilemma der Konservativen und Rechten: Sie sind emotional nicht zeitgemäß und nicht anschlussfähig können nicht heraus aus ihrer emotionalen Rolle. Das gilt für die politische wie für die gesellschaftliche Ebene. Deshalb ecken sie ständig an am Rest der Gesellschaft.
im Februar/Mai 2022