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 براى ترسيدن به وقت بوسيدن

Iran 2022 - Die erste liberale Revolution

"Wegen der Angst sich zu küssen"

(eine Zeile aus dem Protestlied "Baraye" von Shervin Hajipur, 2022) 

Alle Revolutionen der vergangenen 500 Jahre hatten kollektive Freiheit zum Ziel: ob die Reformation, die Französische Revolution, die kommunistischen Revolutionen, die Unabhängigkeitsbewegungen im Ostblock, die Revolution in der DDR oder der Arabische Frühling. Im Iran aber wird gerade zum ersten Mal kollektiv für individuelle Freiheit gekämpft. Es geht um mehr als nur Bürgerrechte; es wird eine liberale Gesellschaft gefordert. Was sich im Iran gerade abspielt könnte die erste liberale Revolution der Geschichte werden.

Narrative und Strategien

Uns werden im deutschen Fernsehen, in den Sozialen Medien und in Zeitungen jeden Tag Bilder und Videos von jungen Frauen gezeigt, die auf der Straße tanzen, die ihre Kopftücher verbrennen, die in Sprechchören "Marg bar Diktator" ("Tod dem Diktator") rufen. Dies sind zumeist Nahaufnahmen. In Weitwinkelaufnahmen von demonstrierenden Menschenmassen sieht man jedoch weit überwiegend Männer. Wir hören immer wieder den Begriff "feministische Revolution", wir sehen viele mutige junge Frauen und der Slogan der Bewegung ist "Zan, Zendegi, Azadi" ("Frau, Leben, Freiheit"). Aber das Narrativ ist falsch. Es wird sowohl von feministisch motivierten Journalisten in Deutschland und dem Westen -- und ebenso von anderen, die die Logik des Journalismus verstanden haben -- als auch von den Protestierenden selbst gesetzt und repetiert. Die Frauen gesellschaftlich und juristisch auf Augenhöhe mit den Männern zu stellen ist zentrales Ziel der Bewegung, aber es gibt ein übergeordnetes Ziel: die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Oft ist zu hören: sogar die Männer unterstützen die Frauen in ihrem Kampf für Selbstbestimmung. Nein. Frauen sind Akteure, Symbole und Objekte der Bewegung zugleich. Nichts symbolisiert die Macht des Regimes so sehr wie die Kleidungsvorschriften, vor allem das Kopftuch. Wenn das Kopftuch fällt, fällt die "Islamische Republik", wird gesagt. Dieses banale Kleidungsstück ist der schwächste Punkt in der Legitimierung der islamischen Herrschaft. Die Protestierenden haben erlebt, dass die Forderungen bisheriger Protestbewegungen unerfüllt blieben. Weil sie innersystemisch waren. Eine Protestbewegung aber anhand zentraler Symbole der bestehenden Herrschaft aufzuziehen kann alle Forderungen der letzten Jahrzehnte auf einmal erfüllen. Symbolische Akte wie auf den Straßen zu tanzen, Kopftücher zu verbrennen, in der Öffentlichkeit zu singen, die Geschlechtertrennwand in der Mensa abzureißen, den Mullahs die Turbane vom Kopf zu stoßen und wegzurennen, sodass manche schon sich den Turban ums Kinn festbinden wenn sie rausgehen ... richten sich alle gegen die Geschlechterapartheid. Andere Ziele wie Wohlstand, Lebensperspektive, persönliche Unabhängigkeit und individuelle Freiheit, Mitbestimmung oder Leistungsgerechtigkeit könnten damit gleich miterreicht werden. Die Gleichberechtigung von Frauen ist der notwendige Dammbruch. Wenn das Regime das gestattet, wird es hinweggespült. Die Protestierenden haben begriffen, dass ihre Freiheit nur als Nebeneffekt bei der Befreiung der Frauen erreicht werden kann. Deswegen werden die Akte der Frauen so sehr gefeiert.  der

Der Machtkampf zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen wird ungleich geführt: Propaganda-Apparat vs. Social Media, SA-artige Basidsch-Milizen vs. Steine werfende Mittzwanziger, Konformismus vs. Individualismus, Märtyrerkult vs. Spaß am Leben, Nutznießer vs. Ausgenutzte. Was das Regime an der Macht hält ist Gewalt, ausgeübt durch Menschen. Solange die Protestierenden den Gewalttätern auf Seiten des Staates nichts anbieten wie diese aus ihrer Rolle herauskönnen oder wie in einer andersartigen Zukunft mit den Verbrechen umgegangen werden kann, sind die Gewalttäter in einem Teufelskreis gefangen und abhängig vom Fortbestehen des Regimes und werden sich dafür einsetzen. Es wird also solange nach den Regeln des Regimes gelebt, bis sich in der Machtkonstellation die Machtbasis ändert. Denn keiner gewinnt das Spiel so gut und so oft wie der, der die Regeln bestimmt. Gegen ein brutales Regime mit Brutalität vorzugehen bedeutet nach deren Regeln zu spielen und das Regime spielt das Spiel schon sehr lange. Jedes Steinewerfen, jede brennende Barrikade, jeder verletzte oder getötete Basidschi liefert Bilder für den Propaganda-Apparat und zeigt den Regimetreuen und den Unentschlossenen, dass mit den möglicherweise kommenden Herrschern Unsicherheit und Chaos einhergehen könnte. Auf ein brutales Regime aber mit Sanftmütigkeit, Passivität und Fahrlässigkeit zu reagieren bedeutet ein neues Spiel zu spielen mit neuen Regeln: Das Kopftuch auf die Schultern fallen lassen, eine knöchelfreie Hose tragen, eine Geliebte öffentlich an der Schulter berühren, an Aschura leise Lady Gaga hören, sagen, man habe gehört, Tel Aviv soll ganz nice sein ... Was wollen sie dagegen tun? Noch bösere Blicke? Die Peitschenhiebe verdoppeln? Sie werden das neue Spiel verlieren. Das ist Protest im Gandhi-Style: Salz sammeln während sie dich schlagen. 

Junge Menschen im Iran -- insbesondere Gutgebildete in den Großstädten -- sind nicht anders als wir; sie wachsen genauso mit Instagram und Körperkult und sehr ähnlich klingender Musik auf und sie sind säkular -- mit dem Unterschied, dass sie für unerwünschtes Sozialverhalten mit wahlweise mit 27 oder zum Beispiel 58 Peitschenhieben bestraft werden. Auch im Iran ist 2022 und es darf nicht mit kulturellen oder religiösen Eigenheiten oder Traditionen gerechtfertigt werden, es sei dort nun mal anders als bei uns. Laut einer jüngsten Studie, die sogar die iranische Regierung selbst veröffentlich hat, bezeichnen sich nur noch 30 Prozent der Bevölkerung als Muslime. Wahrscheinlich sind diese Zahlen bereits geschönt. Und unter jungen Menschen dürfte der Anteil noch niedriger liegen. Vor einigen Jahren sagte mir ein iranischer Professor, dass ohne das Regime womöglich die Hälfte der iranischen Bevölkerung zum Zoroastrismus zurückkehren würde. Das Regime hat es geschafft die Menschen von ihrer Religion und vom Glauben abzubringen. Denn: was ein Staat definitiv nicht leisten kann ist den Menschen ihr Bemühen, in den guten Teil des Jenseits zu kommen, abzunehmen. Im Gegenteil: Die Menschen ruhen sich aus in der heimlichen Hoffnung, was die Regierung tut, wird schon ausreichen, um in den Himmel/ ins Paradies zu kommen.

 

Ideologische Diktaturen haben viel mehr als machtpolitisch motivierte Ein-Mann-Diktaturen ein Interesse daran das Privatleben der Bevölkerung zu organisieren; sie legitimieren sich damit, das beste für das Volk zu wollen. Machtpolitisch motivierte Diktaturen haben vor allem das Wohl des Herrschers zum Ziel, ideologische Diktaturen hingegen vor allem das Wohl der Bevölkerung -- auch gegen den Willen der Bevölkerung wird nur ihr Bestes gewollt. Der Unterschied zwischen der ideologischen Diktatur in der DDR und der im Iran besteht darin, dass erstere nur das irdische und materielle Wohl der Bevölkerung anstrebte, während zweitere vor allem das jenseitige und damit seelische Wohl der Bevölkerung anstrebt. Staatsziel im Iran ist, dass die Menschen ins Paradies kommen. Da "Gott auch in das Verborgene sieht" muss zum Erreichen des Staatsziels auch das Privatleben der Menschen reglementiert werden. Viele "immerwährende Revolutionen" und ideologische Staatswesen erlahmen nach ein oder zwei Generationen, weil sich die Vorstellungen vom eigenen Wohl durch den Diskurs ändern, das Regime sich aber weiterhin über die es selbst konstituierende Ideologie definiert. Da sich Wohlvorstellungen nicht von außen ändern lassen und weder die Bevölkerung noch das ideologische Regime ihre Wohlvorstellungen selbst ändern wollen, können diese in einem Staatswesen nicht koexistieren. Ihre Wohlvorstellungen entgegen dem Willen des ideologischen Regimes zu verwirklichen ist nun Anliegen vieler junger Menschen im Iran.

 

Wie wir betroffen sind ...

Als ich im März 2022 die große Demonstration an der Siegessäule gegen den beginnenden Krieg gegen die Ukraine besuchte waren ca. 90 Prozent der Demonstranten autochthon Deutsche; als ich im Oktober 2022 die große Demonstration an der Siegessäule zur Solidarisierung mit den Freiheitswilligen im Iran besuchte waren ca. 0 Prozent der Demonstranten autochthon Deutsche ... Die Ukraine und der Iran waren uns noch letztes Jahr beide gleich fremd -- dieses Jahr ist uns das eine Land sympathisch geworden und wir sind emotional betroffen; das andere Land aber ist uns immer noch fremd und wir solidarisieren und nur sehr halbherzig. Die Politik hat genauso reagiert. Dabei sind wir in Deutschland von dem was im Iran passiert eigentlich viel mehr betroffen als von dem was in der Ukraine passiert. Gegen das eine haben wir einen Schutz, nämlich die NATO, gegen das andere nicht, weil das über Medien, Institutionen und Bankkonten direkt in die Köpfe unserer Jugendlichen strömt und damit unmittelbar Einfluss auf das Alltagsleben in Deutschland hat.

 

Das Ende der ideologischen Geopolitik

Während in den vielen arabischen Staaten der Region mit säkularen Diktatoren (Mubarak, Gaddafi, Assad, Ben Ali, Saddam Hussein) der Islamismus in der Bevölkerung zugenommen hat, da er die einzige machtvolle Opposition zum jeweiligen Regime darstellte, weil der Liberalismus unfähig war eine Volksbewegung zu bilden, hat sich im Iran der Liberalismus als Opposition zum religiösen Regime durchgesetzt. Der Kommunismus der 1970er Jahre ist nicht mehr attraktiv und hat vor allem keine Vorbilder oder internationale Unterstützer mehr; ein Volksislamismus oder reiner Nationalismus wären untauglich als Opposition, da das Regime diese Ideen bereits vereinnahmt hat. Liberalismus und Säkularismus hingegen stellen den größtmöglichen Protest gegen die Ideologie und die Legitimation des Regimes dar. 

Seit einigen Jahrzehnten spielt sich im Nahen und Mittleren Osten ein scheinbar religiöser Konflikt ab mit Stellvertreterkriegen, Finanzierung von Terrorismus und Geopolitik wie im 19. Jahrhundert. Und der Iran ist zentraler Akteur, der sich seine Verbündeten und Vasallen nach dem Minimalkonsens aussucht, nicht bereits Vasallen der "Erbfeinde" zu sein. Der iranisch-schiitische Selbstbehauptungsdrang führt zu einem Antagonismus, der die Antagonisten ihrerseits dazu zwingt ihre Ideologie in verschiedene Gesellschaften zu streuen. In der Konsequenz sind in vielen Gesellschaften der Region diejenigen die lautesten Agitatoren, die am konservativsten und am engstirnigsten sind. Und die staatlich beeinflussten Medien einiger Länder sind zentrale Plattformen, auf denen erwünschte Lebens- und Denkmodelle propagiert werden. Aljazeera als internationales und größtes arabischsprachiges Medium berichtet in seinem arabischen Programm seit Wochen konsequent nicht über die Ereignisse im Iran -- nicht mal auf Seite drei oder in der Fußleiste. Der Sender ist finanziell stark beeinflusst und personell abhängig von der katarischen Herrscherfamilie Al Thani, die sich mit dem iranischen Regime verbündet hat, da sie das gemeinsame Feindbild Saudi-Arabien und ein proletarisches Islambild à la Muslimbrüder teilen, das etwa im europäischen Ausland vor allem für orientierungslose junge Menschen mit "unprivilegiertem" sozialem Hintergrund attraktiv ist. Aljazeera und die Al Thanis haben anscheinend verstanden welche Auswirkungen ein neuer Iran auf die Stellung Katars im Spiel der Mächte und seiner Ideologie in den Gesellschaften haben könnten. Auch Salafisten in Deutschland beginnen zu begreifen, dass das gerade so gar nicht ihren Wertvorstellungen entspricht. Es könnte ihr ganzes Lebenswerk zerstören, eine islamisch-konservative Welt zu erreichen. Deutschland hat seit etwa zwei Jahrzehnten mit dem Islamismus zu tun, Ägypten muss sich schon seit 96 Jahren damit rumschlagen. Und nichts war im letzten Jahrhundert im Orient so erfolgreich wie die Ideologie der Muslimbrüder. Diese Ideologie mit ihrer Engstirnigkeit und ihrem Zurückziehen auf das was man schon kennt, ist verantwortlich für die gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Unterentwicklung der Region. Was gerade im Iran passiert, könnte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts den zentralen ideologischen Konflikt der gegenwärtigen Welt beenden: den Clash of Civilisations zwischen dem liberalen Westen und dem "konservativen" Islamismus. Dem Islamismus in der Welt droht der Verlust seines Erfolgsmythos; von diesem Rückschlag wird er sich nie wieder erholen.

Wenn das Regime stürzt, könnte sich die erste liberale, säkulare, moderne Gesellschaft und Staatswesen im ganzen Nahen und Mittleren Osten etablieren und eine Ausstrahlung auf die benachbarten Gesellschaften haben, die bislang den Islamismus als größtmögliche Rebellion gegen die Diktatoren, Autokraten und absolutistischen Herrscher sehen. Unterschiedliche islamistische Gruppierungen finanziell und institutionell zu unterstützen ist bisweilen für viele Regierungen und Regimes von den USA bis Katar ein Mittel die eigenen machtpolitischen Interessen durchzusetzen. Sollte sich der Islamismus nicht mehr als funktionabel in dieser Hinsicht erweisen, wird auch die Förderung desselben abnehmen und andere Ideologien oder Lebensstile könnten gefördert werden, um Einfluss auf Gesellschaften, Staaten und Regierungen auszuüben. Vor allem aber würde eine blutig erkämpfte liberale Revolution aus der Mitte der Gesellschaft heraus mit großem Enthusiasmus gefeiert werden und wird Vorbildfunktion haben für die ganze Region, in der Dutzende Millionen junge Menschen in Großstädten säkular sind und keinen Bock mehr haben auf Konservatismus, Engstirnigkeit, Bevormundung und geheuchelte Sittsamkeit; nicht nur in Kairo und Tunis, sondern mittlerweile auch in Riad und Dschidda, wenn auch mit einigen Jahren verzögerter Entwicklung. Es besteht gewaltiges Attraktivitätspotenzial. Wenn auch junge unorientierte Menschen orientalischer (oder auch autochthoner) Herkunft in den westlichen Ländern erfahren, dass der Islamismus an Attraktivität verloren hat, könnten auch sie sich nach neuen Lebensstilen umsehen -- vielleicht sogar mit einem liberalen Lebensstil gegen ihr engstirniges Diaspora-Milieu rebellieren wollen. Auch diese Menschen rebellieren in ihrer Jugend gegen bestehende gesellschaftliche Systeme -- nur dass sich ihr Wunsch nach Abgrenzung nicht gegen die Herkunftsgesellschaft richtet, sondern gegen die Allgemeingesellschaft. Die größtmögliche Provokation bisweilen ist, Zugehörigkeit zur konservativen, traditionalistischen, durch sonderliche Gebote und Verbote konstituierten Alternativgesellschaft zu demonstrieren. Eine neue Konfliktkonstellation im Nahen und Mittleren Osten könnte Einfluss auf die Diskurse innerhalb der Diaspora-Milieus in Deutschland haben und vor allem bei jungen Menschen die Frage neu stellen welches Gesellschafts- und Menschenbild für "mich" selbst reizvoller ist. Der Westen hat leider nicht begriffen welche Tragweite die Ereignisse im Iran haben.

 

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Es ist ruhiger geworden auf den Straßen und es gibt kaum noch neue Bilder, aber in den Köpfen und im privaten Lebensstil ist die Revolution bereits vollendet. Und: Die Forderung nach individueller Freiheit kann nicht mehr zurückgenommen werden. Was immer nach dem System "Islamische Republik" kommt: Individuelle Freiheit wird integraler Bestandteil des Selbstverständnisses von Staat und Gesellschaft sein.

im November 2022/ Januar 2023

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