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Gedanken zur Ukraine

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Слава Україні

Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine wird gerade ein Land zusammengeschweißt, das bisher intern zerrissen war -- weniger in zwei ethnische Gruppen als viel mehr in zwei Identitätsräume. Es findet in der Ukraine derzeit ein Nationbuilding in einer Geschwindigkeit statt, das zu einer intensiveren Nation führen wird als die das Nationbuilding der letzten dreißig Jahre. 

 

Betrachtet man ethnologische und linguistische Karten von Ende des 19. Jahrhunderts, so stellt man fest, dass der ukrainische Sprachraum deutlich größer war als heute und bis zu 500 km in den Süden des heutigen Russland hinein reichte. D.h. dass viele derer in der Ukraine, die heute Russisch als Muttersprache sprechen Nachfahren von Menschen sind, die noch vor vier Generationen Ukrainisch gesprochen haben. Überhaupt, sind sich die russische und die ukrainische Sprache so ähnlich, dass sie zum größten Teil gegenseitig verständlich sind. Abgesehen von einzelnen Vokabeln sind vor allem zwei Lautverschiebungen augenfällig: g/h (bspw. russ. Lugansk/ ukr. Luhansk) und i/o (bspw. russ. Charkow/ ukr. Charkiw). Diese Ähnlichkeit bewirkt, dass in einem Großen Teil des Landes eine Mischsprache gesprochen wird und zwischen dem "reinen" Ukrainisch ganz im Westen und dem "reinen" Russisch ganz im Osten ein Dialektkontinuum besteht, das einen fließenden geografischen Übergang von der einen zur anderen Spreche darstellt. D.h. der soziale Konflikt orientiert sich weniger an einer klaren sprachlichen Grenze, sondern vielmehr am kulturellen Zielpunkt: Ex oriente lux oder Ex occidente lux? Und damit an Identitäten. Es scheint gerade die Nähe und der Mangel an klarer Unterscheidbarkeit und eindeutiger Teilbarkeit zu sein, die einen gemeinsamen Diskursraum ermöglicht, in dem die Entscheidung Richtung Osten oder Richtung Westen entschieden werden kann und soll. Es geht in diesem Konflikt um Identität, nicht um Ethnizitöt - und Identität ist wandelbar. Daher wird dieser Konflikt in den Köpfen und Herzen der Einwohner der Ukraine entschieden und nicht mit Waffen. 

Durch die charismatische Integrationsgestalt, die Präsident Selenykyj darstellt, findet nicht nur ein geistiges Nationbuilding statt. Dadurch, dass er selbst russischer Muttersprachler ist, nun aber in seiner Funktion die ukrainische Sprache benutzt, wird ein linguistisches Nationbuilding forciert. Am Ende könnte eine ukrainisierte Ukraine stehen, weil sich die Bevölkerung dazu entschieden hat, sich vom äußeren Aggressor abgrenzen zu wollen. 

Russland kann diesen Krieg nicht gewinnen. Es ist geopolitisch stark isoliert und konnte bei der UN-Abstimmung nur fünf Personen (fünf Diktatoren; keine Länder oder souveränen Gesellschaften) für sich gewinnen. Abgesehen von Weißrussland stand keine einzige der 14 ehemaligen Sowjetrepubliken auf der Seite Russlands. Einige Wochen nach der Invasion gab der stellvertretende Außenminister Kasachstans einer deutschen Zeitung ein Interview, in dem er sagte: "Wenn es einen neuen eisernen Vorhang gibt, werden wir nicht dahinter sein". Auch Kasachstan, in dem etwa drei Millionen ethnische Russen leben (ein Fünftel der Einwohner), wendet sich schon seit einigen Jahren von Russland ab. Bereits vor etwa drei Jahren hat das Land für die kasachische Sprache die lateinische Schrift (neben der tradierten kyrillischen Schrift) offiziell eingeführt, was den Kreml dazu veranlasste seinen Unmut darüber kundzutun. 

Russland ist unattraktiv (geworden). Weil es sich gegen die moderne Welt stellt. In dieser modernen Welt hat es nicht viel anzubieten, das für die Nachbarländer oder junge Leute im eigenen Land attraktiv wäre -- kein liberales demokratisches System, keine zukunftsgewandte, positiv gestimmte Gesellschaft, keine prosperierende Wirtschaft, keine geopolitische Einbindung in den coolen Teil der Welt. Die ganze Welt schaut nach Westen -- nach Europa und Nordamerika -- übernimmt oder kopiert, was hier erdacht und vorgelebt wird. Nur die Verlierer der Moderne und die Unzufriedenen schauen in andere Weltregionen: Islamisten schauen in die Wüste, Sowjetromantiker Richtung Moskau, Trump-Wähler nicht an die amerikanischen Küsten - ihnen gemein ist, dass sie glauben, die Beste aller möglichen Welten hätte bereits bestanden und würde nicht erst noch kommen. 

Die Ukraine geht seit einigen Jahren einen anderen Weg. Hier scheint es die Hoffnung zu geben, dass man die unbefriedigenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände beseitigen kann, indem man sich neu orientiert. Richtung Zukunft, Richtung Westen, Richtung Freiheit. Die bekannten Handlungsmuster haben das Land in einem lethargischen Zustand gehalten. Der 24. Februar 2022 stellt nun das Initial für eine entschiedene und auf lange Zeit unumkehrbare Neuorientierung dar, die von der Bevölkerung der Ukraine (beinahe) kollektiv gewollt wird. 

Und die Ukraine hat das Glück, dass die fortschrittliche freie Welt sie aufnehmen will. Die Politik der westlichen Länder bietet eine so schnelle Assoziierung, wie dies noch kein anderes Land gekannt hat. Und die Gesellschaften (in Deutschland beinahe ohne Unterschied der persönlichen politischen Standpunkte) solidarisieren sich mit einer existenziell bedrängten Nation, die um Aufnahme gebeten hatte. Sicherlich haben Politik und Medien der westlichen Welt diesen Prozess auch wohlwollend begleitet oder gar initiiert. 

Vielleicht ist die Ukraine gerade auch Spielball in einem neuen Great Game geworden ... Vielleicht hat sie es gemerkt ... Vielleicht auch nicht. Aber auch andere Länder sind gerade in Zugzwang geraten oder nutzen ihre Chance sich dem politisch und kulturell führenden Teil der Welt anzuschließen und sich endlich aus ihrer Position der geopolitischen Zerrissenheit zu befreien, so wie Moldawien, Georgien und Finnland, denen nun Chance und Perspektive gegeben wird. Sollte es sich tatsächlich um ein neues Great Game handeln oder auch nicht ... Der Westen wächst. Er ist nach wie vor attraktiv. Auch für solche Länder, die einige Jahre lang den Anschein machten sich abzuwenden -- wie die Türkei, Ungarn oder Polen. Auch Menschen innerhalb des Westens, die europaskeptischen Parteien anhängen, erkennen nun, dass bei aller berechtigten Kritik an den Institutionen sie das Glück haben doch im besten Teil der Welt zu leben. Diesen Zustand müssen andere sich gerade mit großer Not erkämpfen. 

Lange nicht war der Westen so attraktiv wie heute

Solange ich zurückdenken kann war die Formulierung "Europa ist ein Friedensprojekt" eine Floskel, die zwar viele junge Menschen nachgeplappert haben, aber deren Sinngehalt doch niemand verstanden hatte ... und die Formulierung "der freie Westen" klang nach 80er Jahre. Vor allem in den Jahren um die Finanz- und Euro-Krise 2008 schein Europa sehr an Strahlkraft verloren zu haben. Rückblickend betrachtet ist wohl das Jahr 2015 als Wende anzusehen, als Millionen Menschen aus kriegs- und krisengeschüttelten Regionen aufbrachen und dem Ruf einer goldenen Weltregion folgten nach Mittel- und Nordeuropa strebten - eine Region mit Wohlstand, Freiheit, Zivilisiertheit und seelischem Wohlbefinden. 

im April/Mai 2022

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