Die integrative Nation
Gesellschaft ist Gesellschaft oder ist es nicht, sie ist es aus ihrer Natur heraus; wenn aber eine Gesellschaft Gesellschaft sein will, kann man das Nation nennen. Es ist der Wille eines Einzelnen oder einer Gruppe, mit den Menschen in seinem Umfeld gut auszukommen.
Einer Nation kann sich daher grundsätzlich jeder anschließen und es kann auch jeder in die Nation aufgenommen werden, der sein Interesse am Fortkommen und an der Genese dieses Sozialwesens bekundet. Und es sollte auch jeder solche aufgenommen werden und es muss auch jeder solche aufgenommen werden, da nicht die Herkunft, sondern die Zukunft über das Wesen dieses Gemeinwesens entscheiden sollte.
Es gibt zwei Arten von Nation: die Willensnation und die "natürliche" Nation. Die ersten Willensnationen waren etwa die Schweiz und die USA, die auf dem Prinzip gegründet wurden, dass sich Menschen unterschiedlicher Herkunft trotz der unterschiedlichen Herkunft dazu entschieden hatten ein Gemeinwesen sein zu wollen -- und sich fortlaufend dazu entscheiden ein Gemeinwesen bleiben zu wollen. Das heutige Deutschland hingegen ist eher als natürliche Nation anzusehen, die sich ursprünglich über die gemeinsame Sprache definierte und sich damit von den "Welschen" und den Slawen abgrenzte. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hat sich jedoch das linguistische Kollektivempfinden in ein ethnisches und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein "rassisches" verwandelt. Ebenso hat sich über die Jahrhunderte geändert, wer zur deutschen Nation gehört: Mit der Etablierung einer gesonderten niederländischen Standardsprache hat sich in deren Geltungsbereich zunehmend eine eigene Nation in Angrenzung zur deutschen herausgebildet, sodass heute niemand mehr Niederländer und Flamen als Teil der deutschen Nation begreifen würde; wenngleich sie uns in ihrer Sprache, ihren Verhaltensweisen und ihrer Mentalität sehr ähnlich sind und wir den größten Teil der Geschichte gemein haben. Auch in Österreich scheint der Prozess einer Nationswerdung (Nation Building) mittlerweile (fast) abgeschlossen zu sein. Auch hier hat sich fußt das Verständnis der eigenen Nation zum großen Teil auf der Abgrenzung zur "deutschländischen" Nation. Eine dritte Gruppe sind die Juden, die schon zu Zeiten, als man sich in deutschen Landen noch vorrangig über die Konfession definierte, außenvor standen; im 19. Jahrhundert einen Konflikt um Assimilation der Abgrenzung zu christlichen Deutschen austrugen und spätestens im 20. Jahrhundert gegen den Willen der meisten Juden aus der Nation ausgeschlossen und von ihrem Umfeld ausgegrenzt wurden. Bis heute besteht im Diskurs in Deutschland diese Dichotomie Deutscher vs. Jude. Christliche und jüdische Deutsche leben seit fast 2000 Jahren auf demselben Boden und
Die intensivsten Nationen sind kleine Länder, die nie nie eine Hegemonialposition innehatten.
Große Nationen definieren sich über ihre großartige Geschichte und darüber über andere obsiegt zu haben. Und weil sie groß sind und bestrebt sind viele unterschiedliche Menschen als Teil ihrer Selbst zu vereinnahmen, sind sie darauf angewiesen diese unterschiedlichen Menschen über Symbole wie Flagge, zentrale Integrationsfiguren, ein starkes Staatswesen oder kodifizierte Verträge zusammenzubringen und zusammenzuhalten. Zentral ist für die Existenzfähigkeit dieser großen Nationen eine Überlegenheitsrhetorik gegenüber anderen/kleineren Nationen. Große Nationen befinden sich in einem ständigen Selbstbeweisungskampf und können daher nur an sich selbst scheitern.
Man betrachte die USA, die die Anschein machen, sich für die größte und großartigste Nation der Welt zu halten. Dennoch konnte allein eine Präsidentschaftswahl den Zusammenhalt dieser Nation derart gefährden, dass von den Devided States of America die Rede war. Ähnliches gilt für Britannien nach der Abstimmung über den Brexit. Wenn eine Nation nur von Symbolen und Rhetorik lebt, aber kein gemeinsames Fundament für eine Gesellschaft besteht, können diese Nationen leicht scheitern.
Die kleinen Nationen hingegen brauchen keine Symbole und (über)leben auch nicht von Überlegenheitsrhetorik.
Sie sind in sich viel stabiler, weil sie in ihrer geringeren internen Verschiedenheit auch viel weniger durch übergelagerte Faktoren und nötigende Willensbekundungen zusammengehalten werden, sondern weil die Menschen sich aus ihrem Wesen heraus als Teil dieses Gemeinwesens empfinden.
Deutschland ist als Nation zu groß... Was verbindet einen Menschen in München mit einem Menschen an der vorpommerschen Ostseeküste? Welcher Gemeinsinn besteht? Würde man sich für den anderen mehr einsetzen als für einen Menschen in Holland? Hingegen wäre eine Nation Vorpommern, die Menschen an der Küste und Menschen im Hinterland umfasst viel stabiler, weil die Menschen in den unterschiedlichen Landesteilen dieser Nation viel ähnlichere Welterfahrungen teilen, mit ähnlichen naturräumlichen Gegebenheiten vertraut sind, sich Kultur, Tradition, Religion, Sprache, Geschichte viel mehr ähneln und dadurch eine viel emotionalere Verbundenheit besteht als bei einer großen Nation. Je kleinräumiger und je ähnlicher die Menschen sich sind, desto intensiver ist die emotionale Bindung der Menschen untereinander und desto eher würden sie füreinander einstehen.
Denkt man diese Reihe fort, so muss als die intensivste aller Nation, denen man angehören kann, die eigene Familie gedacht werden.
Das Land mit der intensivsten Nation ist m.E. Israel. Ein Volk, das seit über 2000 Jahren die Erzählung von ewiger Verfolgung kultiviert hat, das viele Pogrome, Vertreibungen, Exile und einen großen Völkermord überlebt hat, das in alle Welt verstreut wurde und nach 2000 Jahren in sein Land zurückkehrt - ein Land, das ihm von Gott persönlich versprochen wurde und das man sich dennoch selbst zurück erobern musste. Wenngleich die jüdische Nation europäisch konnotiert ist, so ist sie doch an sich weder ethnisch noch sprachlich definiert und zugleich kann man als Mitglied dieser Nation (fast) nur durch Abstammung anerkannt werden. Eine Gesellschaft, die durch Gott selbst definiert ist, die durch mehr als hundert Generationen Schicksalsschläge und Leid geprägt ist und am Ende (heute) sich endlich befreit hat, wird alles tun, um dieses Gemeinwesen existent und lebendig zu erhalten.
im Januar/Mai 2022