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Bundestagswahl 2017 
Geografie der Parteien im Bundestag

A. Bezüglich der Ergebnisse der AfD besteht Deutschland aus vier Regionen:

  1. Region Nord: niedrige Ergebnisse, kaum regionale Unterschiede, kaum Unterschiede zwischen Stadt und Land

  2. Region West: niedrige bis mittlere Ergebnisse; determiniert durch den konfessionellen Gegensatz zwischen katholisch und protestantisch geprägten Regionen und dem daraus abgeleiteten traditionellen Wahlverhalten bzgl. der beiden großen Parteien → Failed States NRW und Rheinland-Pfalz

  3. Region Süd: mittlere Ergebnisse: determiniert durch Anziehungs- und Abstoßungsreaktionen gegenüber den prägenden großstädtischen Milieus in den vier Metropolen München, Stuttgart, Nürnberg und Frankfurt. In einem Umkreis von etwa 50 bis 80 km um diese Metropolen sind die Ergebnisse besonders hoch.

  4. Region Ost: hohe Ergebnisse: kontinuierliche Steigerung der Ergebnisse von West-Mecklenburg bis Ost-Sachsen; in den Großstädten und entlang der innerdeutschen Phantomgrenze niedriger.

 

 

 

B. Geo-strukturelle Determinanten und Phantomgrenzen:

 

Gesamtdeutscher „Nordwestwind“

Auch wenn das augenfälligste Merkmal in den Wahlergebnissen der Bruch zwischen ehem. westlichen und östlichen Ländern ist, so zeigt sich für beide Regionen getrennt ein deutlicher Nord-Süd-Trend mit den niedrigsten Ergebnissen im Nordwesten der Bundesrepublik und den höchsten im Südosten im östlichen Sachsen bzw. in Niederbayern.

 

Stadt-Land-Gefälle

Großstädte senken die Ergebnisse signifikant! In zwei Drittel der Großstädte liegt das Ergebnis unter dem Bundesergebnis von 12,6 Prozent, in drei Viertel der Großstädte liegt das Ergebnis unter den Ergebnissen in den umliegenden Kommunen. Insgesamt senken Großstädte die Ergebnisse um etwa zwei Prozentpunkte. Vier Fünftel der Wähler dieser Partei wohnen nicht in Großstädten. Damit ist diese die ländlichste aller Bundestagsparteien. Die Kommunikation dieser Partei in der Öffentlichkeit richtet sich bislang nur subtil an Bevölkerungsteile in ländlichen Regionen und könnte konkreter gestaltet werden, da in Gesellschaften im ländlichen Raum durchaus andere Diskurse geführt werden, in die diese Partei besser eindringen kann, da sowohl die Problematisierung von Missständen stärker einen gesamt-gesellschaftlichen Diskurs erfasst, die Diskurse zugleich aber weniger medial politisiert sind; stattdessen stärker durch regionale, persönlichere Sozialstrukturen initiiert werden.

 

Süddeutsche Metropolkränze

In einem Abstand von 50 bis 80 km um die süddeutschen Metropolen München, Stuttgart, Nürnberg und Frankfurt sind die Ergebnisse signifikant höher als im Umland oder innerhalb dieser Kränze. Da die wirtschaftlichen Verflechtungen aufgrund unterschiedlicher naturräumlicher und infrastruktureller Gegebenheiten unterschiedlich sind, sind kulturelle und emotionale Motive für die erhöhte Zustimmung zu dieser Partei anzunehmen. Es kann postuliert werden, dass Menschen in o.g. Entfernung zur Metropole gelegentlich, aber nicht alltäglich die Metropole besuchen und sich von den avantgardistischen Milieus kulturell und emotional abgestoßen fühlen. Dies ist anzunehmen unter der Vorannahme, dass im süddeutschen Raum ein größerer kultureller Unterschied zwischen einer Metropole und dem ländlichen Umland besteht als in den anderen drei Regionen, da dieses Phänomen dort nicht zu beobachten ist. 

Konfessionalität

  1. Signifikante Korrelation: je höher der Anteil der Katholiken in einer Stadt/ Gemeinde, desto niedriger das Wahlergebnis – trifft nur auf die historisch preußischen Regionen zu (d.h. Niedersachsen, NRW, Rheinland-Pfalz); das Münsterland und das kurkölnische Sauerland als diejenigen Regionen in der Nordhälfte Deutschlands mit dem höchsten Anteil Katholiken haben die niedrigsten Ergebnisse in ganz Deutschland mit durchschnittlich 3 bis 7 Prozent. Zudem besteht hier eine Korrelation mit historischem (und gegenwärtigem) Wahlverhalten: in den katholischen Regionen Preußens war die Wählerschaft i.d.R. mit absoluter Mehrheit der Zentrumspartei zugewandt (heute noch immer höhere CDU-Ergebnisse), in den evangelischen der SPD. Deutlich zeigt sich die Übereinstimmung zwischen Konfessionsgrenze und kartografisch signifikantem Wahlverhalten an den Grenzen Westfalen/ Ostwestfalen, kurkölnisches Sauerland/ Siegerland-Wittgenstein, kurkölsches Sauerland/ märkisches Sauerland, Ruhrgebiet/ Umgebung, Westerwald/ westliche Umgebung, Pfalz/ Hunsrück und im östlichen Saarland. In der Region West spielen damit historische Identitäten und kulturelle Bezüge eine derart vordergründige Rolle für das strukturelle Wahlverhalten, dass die westlichen Länder als Failed States betrachtet werden müssen, in denen das Nation Building gescheitert ist und sich für die Bevölkerungen damit nur wenig Identifizierung mit dem jeweiligen Bundesland eingestellt hat. Als geografische Bezugsräume sind hier zuvörderst die Regionalität/ Lokalität relevant.

  2. in den süddeutschen Ländern ist eine solche Korrelation nicht feststellbar (d.h. Hessen, Baden-Württemberg, Bayern). Einzige Ausnahme könnte der Bayrische Wald im östlichen Niederbayern darstellen, wo Ergebnisse zwischen 18 und 25% erreicht werden, die damit deutlich höher liegen als in benachbarten oder anderen Regionen Bayerns. Der Bayrische Wald ist diejenige Region in Deutschland mit dem höchsten Anteil Katholiken (über 80% der Einwohner der dortigen Landkreise).

  3. In den ostdeutschen Ländern können zwei Anomalien auf Konfessionalität zurückgeführt werden: das katholische Eichsfeld im westlichen Thüringen (i.d.R Werte 14 bis 18 % ggü. i.d.R. 24 bis 32 % im restlichen Thüringen) und das Amt Am Klosterwasser, fünf Gemeinden im Kreis Bautzen im östlichen Sachsen, mit Werten zwischen 18 und 24 % ggü. 31 bis 41 % in der Umgebung. In diesen Gemeinden ist der Anteil sowohl von Katholiken als auch von Sorben sehr hoch.

  4. Regionen mit besonders hohem Anteil Konfessionsloser weisen bzgl. der Ergebnisse dieser Partei keine Besonderheiten auf.

 

Deutsch-deutsche Phantomgrenze

Mehr als eine Generation nach der Wiedervereinigung zeigt sich ein deutlicher Bruch in den Wahlergebnissen für diese Partei entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze (daher Phantomgrenze; ein sehr junger Begriff in der geografischen Wahlforschung). Phantomgrenzen lassen sich nicht nur durch unterschiedliche konkrete Lebenserfahrungen erklären, sondern auch durch infrastrukturelle Gegebenheiten. Eine ebenso deutliche Phantomgrenze besteht zwischen dem westlichen und östlichen Polen und ist beinahe deckungsgleich mit der deutsch-russischen Grenze vor dem Ersten Weltkrieg. Da diese Phantomgrenze stark von der Grenze zwischen Vertreibungs- & Neuansiedlungsgebieten und altem polnischen „Siedlungsraum“ abweicht, kommen für diese Erklärung nicht Sozialstrukturen infrage, sondern wird mit der ererbten Infrastruktur des Deutschen Kaiserreichs erklärt. Westlich dieser Phantomgrenze hatte etwa bei vergangenen Wahlen die „Bürgerplattform“ die Mehrheit, östlich davon die national-konservative PiS.

 

„Nordwestwind“ innerhalb der östlichen Länder

Vom westlichen Mecklenburg und der westlichen Altmark hin zum Erzgebirge nehmen die Wahlergebnisse von 13 auf über 40 % kontinuierlich zu. Dabei besteht auch innerhalb der einzelnen Bundesländer jeweils eine leichte Abweichung in der geografischen Richtung der Zunahme der Ergebnisse: in Mecklenburg-Vorpommern vom westlichen Mecklenburg nach Usedom in östlicher Richtung, in Brandenburg von der Prignitz zur Niederlausitz in südöstlicher Richtung, in Sachsen-Anhalt von der westlichen Altmark ins Burgenland in südlicher Richtung, in Thüringen vom Eichsfeld ins Altenburger Land, in Sachsen vom Vogtland zum Osterzgebirge ebenfalls in östlicher Richtung.

 

Niederdeutsch-ostmitteldeutsche Sprachgrenze

Durch Sachsen-Anhalt und das südliche Brandenburg verläuft in West-Ost-Richtung eine imaginäre Grenze: südlich davon im südlichen Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen und Südbrandenburg liegen die Wahlergebnisse bei über 25 %, nördlich davon bei unter 25 %. Bemerkenswert ist, dass diese 25%-Grenze deckungsgleich mit der (mittlerweile unscharf gewordenen) Sprachgrenze zwischen den Dialekten der niederdeutschen Sprache (d.h. Ostfälisch und Mittelmärkisch) und Dialekten des ostmitteldeutschen Dialektkontinuums (Thüringisch, Obersächsisch, Lausitzisch-Schlesisch, Südmärkisch) ist. Da die niederdeutschen Dialekte in der Region beinahe ausgestorben sind, die Dialekte des ostmitteldeutschen Dialektkontinuums aufgrund der Ähnlichkeit zur deutschen Standardsprache jedoch noch sehr lebendig sind, könnte eine diskursive regionsinterne Identifikation (d.h. ein Wir-Gefühl vom Eichsfeld bis zur Lausitz) die Existenz dieses über-25%-Raumes erklären. darüber hinaus kann postuliert werden, dass diese Region einen subtil sprachlich definierten Identifikationsraum darstellt, der sich aufgrund des obersächsisch-thüringischen Dialekts seit dem politischen und kulturellen Bedeutungsverlust der Region nach dem Aufstieg Preußens vor 200 Jahren depriviert fühlt (wenngleich die Region in der DDR nationstragend und kulturstiftend war) und daher nun mit der Reibung der Mehrheitsgesellschaft an dieser Partei nun selbst einen Bedeutungsgewinn verspürt - wenngleich einen trotzigen und keinen wertschätzenden. 

Rheinfränkisch-Ripuarische Sprachgrenze im Rheinland

Ebenso befindet sich im Landesteil Nordrhein von NRW eine unsichtbare Grenze in den Ergebnissen zwischen Ergebnissen um neun Prozent in der Region zwischen Krefeld und Eifel und Ergebnissen um sieben Prozent am Niederrhein nördlich von Krefeld. Deckungsgleich mit dieser Phantomgrenze ist eine Sprachgrenze, die sehr wahrscheinlich auch determinierend für die Wahlergebnisse ist, da in den beiden Regionen die Diskurse über gesellschaftliche uns politische Themen vermutlich auf unterschiedliche Weise geführt werden. 

Innersächsische 33%-Scheide

Mitten durch Sachsen von der Südwestspitze Brandenburgs zum Erzgebirge verläuft entlang der ehemaligen Grenze zwischen den DDR-Bezirken Dresden/ Leipzig und Dresden/ Chemnitz eine augenfällige Grenze im Wahlverhalten. Östlich dieser Phantomgrenze liegen die Werte i.d.R. Bei über 33 %, westlich davon darunter. Bereits die letzte Volkskammerwahl 1990 hat für dieses Gebiet für eine nationalkonservative Partei (DSU, nach der Wiedervereinigung mit der CDU vereinigt) außergewöhnlich hohe Werte gezeigt (15% ggü 6% in der DDR gesamt). Darüber hinaus besteht auffällige Übereinstimmung mit dem Gebiet, in dem vor 1989 ARD und ZDF kaum empfangbar waren. 

Tourismusregionen in Süddeutschland 

Verglichen mit der Umgebung deutlich niedrigere Ergebnisse in den ländlichen Tourismusregionen Hochschwarzwald, Bodenseeregion, Alpen. Die könnte damit zusammenhängen, dass die Menschen in diesen Regionen sowohl wirtschaftlich als auch sozial positive Erfahrungen mit Fremden gemacht haben und die Narrative dieser Partei deutlich seltener nachvollziehen können.  

Lokale Anomalien 

Espelkamp in Ostwestfalen: Ergebnisse deutlich über denen der umgebenden Kommunen: Espelkamp wurde 1950 als Pilotprojekt für die Ansiedlung von Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkriegs "gegründet". Die Bevölkerung hat sich dadurch innerhalb weniger Jahre verzehnfacht. Es ist anzunehmen, dass durch die Neugründung als "Einwanderungsgesellschaft" über die Generationen hinweg die Suche nach kollektiver Identität tradiert wurde. Diese scheint die Identitätspolitik dieser Partei zu adressieren. 

Wendland im östlichen Niedersachsen: Außergewöhnlich niedrige Ergebnisse. Das Atommülllager Gorleben befindet sich hier. Die Grünen haben hier seit Jahrzehnten außergewöhnlich hohe Ergebnisse. Diese haben als politischer Antipol vermutlich die lokale Gesellschaft und damit Diskurs und Mentalität geprägt. 

Molbergen (Kreis Cloppenburg): Außergewöhnlich hohe Ergebnisse. Die Hälfte der Einwohner stammt aus Russland und gehört zumeist Pfingstkirchen an; einzige Gemeinde in Deutschland, die durch Geburten wächst. 

Sprach- und "Stammes"grenzen in Bayern

Wenngleich in Bayern politisch und kulturell viel Wert darauf gelegt wird, die traditionellen Kultureinheiten zu repräsentieren, so sind diese (Altbaiern, Franken und Schwaben) in den Ergebnissen überhaupt nicht wiederzufinden - ebenso wie bei den anderen Parteien. Diese Einheiten scheinen zwar identitätsstiftend zu sein, jedoch nicht derart miteinander zu konfliktualisieren, wie dies in Westdeutschland der Fall ist, wo sich Identitätsräume noch als Phantomgrenzen im Wahlverhalten zeigen. 

Alle hier genannten kartografisch feststellbaren und erklärbaren Anomalien finden sich ebenso in vorherigen und nachfolgen Landtagswahlen wieder. Es handelt sich damit um strukturelle Unterschiede im Wahlverhalten, die sozialgeografisch erklärt werden können, und nicht um zufällige Anomalien oder eine Häufung von Ausreißern.

 

© Tobias Kühnel 2018   

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