AGH-Wahl in Berlin 2023 -- Potenzialanalyse

Untersucht wurden die Potenziale der Parteien zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2023 auf Ebene der 2256 Stimmbezirke; ausgewertet wurde die Fluktuation in den jeweiligen Wahlergebnissen der sechs großen Parteien zwischen den vergangenen sechs Wahlen seit 2013 (drei Bundestagswahlen und drei Abgeordnetenhauswahlen), d.h. die Differenz zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Wahlergebnis einer Partei in einem jeweiligen Stimmbezirk. In diesem zeitlichen Rahmen sind alle sechs Parteien zu den Wahlen angetreten. Dabei ist der zeitliche Rahmen so groß gewählt worden, dass nicht ein spezifisches Ereignis das Gesamtergebnis dieser Analyse zu stark beeinträchtigt, und so klein, dass nicht generationelle Meinungsschwankungen oder wesentliche Bevölkerungsverschiebungen (d.h. Zuzug & Wegzug) sich in der Analyse niederschlagen. Zweck der Analyse ist daher, die Schwankungen in der Wahlpräferenz einer spezifischen lokalen Population abzubilden.
Die deutlichste Lokale Disparität besteht im West-Ost-Gegensatz innerhalb der Stadt, der sich noch immer sehr deutlich entlang des ehemaligen Verlaufs der Berliner Mauer manifestiert. Östlich dieser sog. Phantomgrenze ist die Fluktuation der Wahlergebnisse überdurchschnittlich, westlich davon ist die Fluktuation unterdurchschnittlich.
Bemerkenswert ist auch die hohe Fluktuation in West-Staaken (am westlichen Spandauer Stadtrand), das bis 1990 zur DDR gehörte und damit dieselbe sozio-politische Prägung wie Ost-Berlin hat. Das Phänomen der geringen traditionellen Parteienbindung findet sich grundsätzlich in den Gebieten mit DDR-Vergangenheit.
Fluktuation der Parteien




Bei der CDU zeigt sich ein diffuses Bild, wobei festzustellen ist, dass die Schwankungen in den Wahlergebnissen am Stadtrand höher sind als in der Innenstadt.
Auffällig ist der Bruch zwischen dem nördlichen und dem südlichen Marzahn-Hellersdorf. Die flächenmäßige Größe der Stimmbezirke verrät dabei die unterschiedliche Wohndichte zwischen Norden und Süden. Der Süden ist vor allem durch Einfamilienhäuser geprägt und hat dadurch mehr CDU-Potenzial, während der Norden durch Plattenbausiedlungen mit wenig Potenzial für die CDU geprägt ist.
Auch die SPD hat am Stadtrand höhere Schwankungen als in der Innenstadt. Besonders in den Wohngebieten der alten West-Berliner Mittelschicht und des Arbeitermilieus sind die Ergebnisschwankungen am höchsten.
Die FDP hat die stärksten Schwankungen in ihren Hochburgen am Stadtrand des ehem. West-Berlin, vor allem entlang des West-Berliner Grüngürtels um den Grunewald.
Die Ergebnisse der Grünen schwanken am stärksten innerhalb des S-Bahnrings und in den wohlhabenden Gegenden im Südwesten.
Die Ergebnisse der AfD schwanken am stärksten am östlichen Stadtrand, aber auch in anderen peripheren Gebieten, die durch Arbeitermilieu und untere soziale Schichten geprägt sind, wie Spandau, Reinickendorf und Neukölln.
Die Ergebnisse der Linken schwanken am stärksten in der Osthälfte der Stadt, aber auch innerhalb des S-Bahnrings. Bemerkenswert ist, dass West-Staaken sehr stabile Linke-Ergebnisse hat, was eine andere sozio-politische Prägung als Ost-Berlin vermuten lässt.
Außerdem ist festzustellen, dass das hohe Potenzial der Linken sich in den Außenbezirken nach wie vor streng an die ehemalige Grenze hält, in der Innenstadt aber davon abweicht. So hat die Linke auch in Kreuzberg und Neukölln hohes Potenzial, im Ortsteil Mitte aber deutlich weniger. Dies erklärt sich durch die lokalen Bevölkerungsstrukturen: Während Neukölln und Kreuzberg als Randlagen im ehem. West-Berlin bereits seit Jahrzehnten "alternativ" geprägt sind, hat sich im Ortsteil Mitte ein Milieu von wohlhabenden Zugezogenen etabliert, wo die Linke wenig Potenzial auf Anklang hat.
Die sonstigen Parteien, die regelmäßig die 5%-Hürde nicht überschreiten, haben die stärkste Fluktuation im Berliner Altbauring (Gebiet in der Innenstadt mit besonders hohem Anteil alter und repräsentativer Gebäude, dichter Bebauung und besonders urbaner Atmosphäre um den Ortsteil Mitte herum: d.h. Wedding, Prenzlauer Berg, Lichtenberg, Friedrichshain, Kreuzberg, Neukölln); aber auch in anderen urbanen Gebieten mit mittlerer bis unterer sozio-kultureller Bevölkerungsstruktur wie Spandau-Zentrum, Marzahn-Hellersdorf-Nord, Schöneweide, Köpenick.
Hohes Potenzial für kleinere Parteien besteht also vor allem in besonders urbanen Gebieten mit zersplitterter Gesellschaftsstruktur. Hier scheinen sehr individuelle Partikularinteressen eine deutlich wichtigere Rolle im Denken der Menschen zu spielen als in anderen Gebieten.
Insgesamt ist bei allen Parteien festzustellen, dass die Schwankungen logischerweise in ihren Hochburgen besonders hoch sind. Das bedeutet, dass es in jedem Stimmbezirk eine bestimmte Stammwählerschaft einer Partei gibt, und je größer dieser Stammwählerschaft ist, desto mehr Potenzial besteht dort für mehr weitere Wähler. Je größer die örtliche Stammwählerschaft ist, desto größer ist ein sozialer Synergieeffekt, der weitere Wähler für die jeweilige Partei fruchtbar machen kann. Das heißt, die bestehenden lokalen sozio-kulturellen Strukturen in einer so segregierten Stadt wie Berlin bestimmen über das lokale sozio-politische Klima, aus dem sich das Potenzial für eine jeweilige Partei rekrutiert.