Der Bonner Konsens

Es besteht ein Konsens in Deutschland über die Grundlagen von Staat, Gesellschaft und Politik, der die Identität der Menschen und des Landes in seiner heutigen Form und seit Jahrzehnten bestimmt: Wir sind "die Bundesrepublik" und wir sind eine soziale Marktwirtschaft mit individuellen Freiheitsrechten. Dies ist der Kompromiss, den die drei Parteien der Bonner Republik (CDU/CSU, SPD und FDP) in den ersten vierzig Jahren geschlossen haben.
Keine der drei Partei konnte dauerhaft alleine regieren und für jede Partei war klar, dass eine der anderen beiden Parteien der künftige Koalitionspartner sein würde. Da es wechselnde Mehrheiten gab, mussten alle drei Parteien untereinander anschlussfähig bleiben und sie haben daher einen Kompromiss geschlossen, der die Grundlage für alle politischen Forderungen und für die politische Mentalität stellte. Politische Forderungen mussten bereits von vornherein verhandlungsfähig sein. Die CDU/CSU hatte keinen potenziellen Koalitionspartner rechts von ihr und die SPD keinen links von ihr. Diese drei Parteien deckten das Meinungsspektrum und das Lebensgefühl von etwa 95 Prozent der Bevölkerung ab. So war das Meinungsspektrum innerhalb einer der drei Parteien bereits so groß, dass ultrarechte, ultralinke oder ultraliberale Ideen schon allein partei-intern keine Aussicht auf Durchsetzung hatten, weil es innerhalb einer jeweiligen Partei ein sehr breites Meinungsspektrum mit verschiedenen Koalitionswünschen gab; schon partei-intern musste also eine Mitte gesucht werden. Der Konsens beinhaltete auch, dass die Parteien in Richtung Mitte integrieren: Die CDU holt Menschen vom rechten Rand ab und bringt sie in die Mitte der Gesellschaft; die SPD holt Menschen vom linken Rand ab und bringt sie in die Mitte der Gesellschaft. Die meisten Politiker in den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik waren noch geprägt von den gesellschaftszerreißenden Konflikten der Weimarer Republik, wo die Ränder sich gegenseitig hochgeschaukelt und auf einen radikalen gesellschaftlichen und politischen Umbruch bestanden hatten. Teil von diesem Konsens ist auch der "anti-totalitäre Konsens", der ursprünglich ein "un-totalitärer Konsens" war: Auf radikale Forderungen, anti-demokratisches Verhalten, Demagogie oder empörende Kriminalitätsdelikte sollte nüchtern, besonnen, beschwichtigend, demokratisch und rechtstaatlich reagiert werden.
Dieser Konsens von "Maß und Mitte" hat die Gesellschaft der Bundesrepublik über Jahrzehnte geprägt. Er hat auch zu den nüchternen Parteikulturen geführt, die wir bei CDU/CSU, SPD und FDP bis heute sehen, der es diesen drei Parteien schwer macht, ihren Markenkern herauszustellen. Die zentralen Forderungen dieser drei Parteien wurden durch diese demokratischen Prozesse bereits so weit abgeschliffen, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten bereits umgesetzt werden konnten -- daher werben diese drei Parteien auch i.d.R. nicht mit Inhalten, sondern mit Gesichtern. Es kann diesen drei Parteien daher heute nur noch um Feinheiten und unterschiedliche Prägungen und Mentalitäten gehen, statt um grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen. Die Mentalität der Bundesrepublik, das kollektive Denken dieser Nation, wurde wesentlich durch diesen Konsens erschaffen und unterscheidet sich deutlich von der prä-bundesrepublikanischen deutschen Mentalität.
In den folgenden Jahrzehnten haben sich drei neue Parteien bundespolitisch verankert: Die Grünen, die Linke und die AfD. Alle drei Parteien haben gemein, dass sie gegründet wurden, um diesen Konsens zu stören -- oder zumindest groß wurden durch ihre gezielte Verletzung dieses Konsens. Sie alle drei sehen in diesem Konsens keinen Platz für sich. Sie lehnen die nüchterne, besonnene, selbstreflektierte und abwägende Mentalität ab, die daraus hervorgegangen ist, die den Ausgleich der Interessen sucht, um den gesellschaftlichen Frieden zu wahren.
Diese drei neuen Parteien haben ihre Hochburgen in Regionen, die durch extreme Bevölkerungsveränderungen und die Anreicherung von exklusivistischen Milieus gekennzeichnet sind: Die Grünen werden vor allem in den Innenstädten der Großstädte gewählt, in denen eine hohe Fluktuation von wohlhabenden, individualistischen jungen/ jüngeren Menschen besteht, die oft stark politisiert und in der Gesamtgesellschaft wenig verwurzelt sind. Die AfD wird vor allem in ländlichen Regionen im Osten und in abgelegenen ländlichen Regionen im Westen gewählt, die viel Abwanderung haben (vor allem von besser Gebildeten und gesellschaftlich weniger Verwurzelten) und wo
Dies spiegelt sich auch in den Ablehnungsquoten wider: die drei neuen Parteien zeichnen sich auch dadurch aus, dass ein größerer Anteil der Bevölkerung diese Parteien "definitiv nicht wählen" würde, als die Parteien des Bonner Konsens, die sich mehr darauf ausgerichtet haben anschlussfähig für Noch-nicht-Wähler zu bleiben.
Der Bonner Konsens hat an Attraktivität und vor allem Fürsprechern verloren: CDU/CSU, SPD und FDP zusammen haben bei den Bundestagswahlen in den 1970er Jahren noch jeweils über 99 Prozent der Stimmen erreicht. Seitdem ist die Zustimmung zu den drei Parteien kontinuierlich gesunken und liegt in aktuellen Umfragen noch knapp über 50 Prozent.

Die Agonie des Bonner Konsens

Dieser Bonner Konsens wurde eigentlich nur die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik nicht infrage gestellt. Schon die 68er-Bewegung lehnte die biedere Stimmung und die Nüchternheit und Ordnung der Bonner Republik ab. Das Milieu der Kinder aus Bourgeoisie und Bohème drehte sich wesentlich um sich selbst, führte dekadente Diskurse, blieb unter sich und radikalisierte sich dadurch. Aus heutiger Sicht wirkt die damalige BRD kaum weniger als "Arbeiter- und Bauernstaat" als die DDR, nur halt konsumorientiert statt besitzstandswahrend. Demgegenüber stand eine APO, die diese einfache, bodenständige, nach dem kleinen Glück strebende Gesellschaft für ihre Kleingeistigkeit von oben kritisierte, und schließlich 1980 die Partei "Die Grünen" gründete.
Schon vier Jahre später ging die SPD in Hessen de facto eine Koalition mit den Grünen ein. Damit bestand zum ersten Mal für eine der drei Konsens-Parteien die Möglichkeit, nicht Richtung Mitte integrieren zu müssen, sondern Richtung Rand gehen zu können. Jede der drei Parteien hat einen Mitte-Flügel und einen Rand-Flügel, und nachdem sich 35 Jahre lang in jeder der drei Parteien der Mitte-Flügel parteipolitisch durchgesetzt hatte, konnte sich nun in der SPD zum ersten Mal ein Rand-Flügel für einen Koalitionswunsch durchsetzen. Der "Demokratische Kreis" mit dem "Mitte-Dogma" bekam zum ersten Mal eine Schlagseite -- die "Urkatastrophe" der gegenwärtigen Diskursverschiebung. Diese Verschiebung vollzog und vollzieht sich vor in einer gesellschafts- und kulturpolitischen Dimension, kaum in einer wirtschafts- und sozialpolitischen. In wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen besteht bis heute weitgehend Konsens, dass das Land eine soziale Marktwirtschaft ist und bleibt.
Oktober 2023