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Der grün-blaue Antagonismus
Konterrevolution von rechts?

     Ein völlig neues Phänomen ist seit der letzten Bundestagswahl in den Umfragen zu beobachten: Zum ersten Mal findet nicht eine Wählerwanderung, sondern eine Verschiebung des gesamten Meinungsspektrums statt. Bisher (die Umfragedaten reichen zwölf Jahre zurück) war es stets so, dass Wähler zwischen ideologisch benachbarten Parteien gewandert sind: Zwischen SPD und Grünen; zwischen Linkspartei und SPD; zwischen CDU und FDP oder klassisch zwischen CDU und SPD. 

     Seit etwa einem Jahr aber sinken die Umfragewerte einer Partei -- und die Werte einer völlig entgegensetzten Partei steigen: Die Zustimmung zur AfD steigt im selben Maß wie die Zustimmung zu den Grünen sinkt; beide Parteien haben denselben Kurvenverlauf, nur gespiegelt. In den ganzen vorangegangenen neun Jahren der Existenz der AfD hatten beide Parteien zumeist einen parallelen oder zumindest ähnlichen Kurvenverlauf: sie haben von der Schwäche von CDU/CSU und SPD beide profitiert oder haben bei deren Stärke beide zugleich verloren. Bis etwa Sommer 2015 bestand ein schwarz-roter Antagonismus, wie er seit Gründung der Bundesrepublik bestanden hatte. Die folgenden sieben Jahre waren ein Zeitraum ohne eindeutigen Antagonismus, indem mal CDU und Grüne Wähler ausgetauscht haben, mal CDU und AfD, mal SPD und Grüne. 

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Die Sozialanalysen sind aber eindeutig: Grünen-Wähler sind für die AfD nicht zu begeistern; sie sind also nicht direkt zur AfD übergelaufen.

     Viel eher gibt es eine grundsätzliche Verschiebung im Parteien- und Meinungsspektrum. Die Politik der Grünen findet bei einem Wähler entweder sehr große Zustimmung oder sehr große Ablehnung. Die politische Vorstellungen der Grünen werden in der Gesellschaft äußerst kontrovers betrachtet: bringen entweder seelisches Heil oder wirtschaftlichen Ruin. Die Medienberichterstattung über diese Projekte und Gesetze und über das Auftreten der Grünen-Minister ist deutlich negativer geprägt als am Anfang oder vor der Ampelregierung. Deutliche Konsequenz daraus ist ein Anti-Grünen-Klima in einem viel größeren Teil der Gesellschaft als zuvor, das wiederum zu einer Anpassung des medialen Klimas gegenüber den Grünen geführt hat. Zugleich finden alternative Medien dezidiert konservativer oder neu-rechter Prägung zunehmend Anklang in der Mitte der Gesellschaft. Der ideologisch entfernteste Gegenspieler und die aggressivste Opposition gegen grüne Politik und den vermittelten Lifestyle ist die AfD, die ihrerseits bei einem Wähler entweder auf große Zustimmung oder auf große Ablehnung stößt.

     Grüne und AfD stehen an den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums: im Hinblick auf "Ideologie", Lifestyle, sozialen Status in Gesellschaft und Wirtschaft, in finanzieller Hinsicht, emotional, im Hinblick auf den kulturellen Bezugsrahmen (national vs. international) und ebenso deren Wähler, die sich als "Anywheres" eher in einem sozialen Milieu wohl fühlen, das sie an verschiedenen Orten auf der Welt finden, bzw. als "Somewheres" eher in einer Gesellschaft mit tradierter Kultur, die sie nur an ihrem Heimatort vorfinden. 

     Dieser Antagonismus ist aus der vollständigen Verkehrung dessen, was links und dessen was rechts ist entstanden: Dieser neue Antagonismus basiert zwar wie der alte Antagonismus auch auf unterschiedlichen ökonomischen Hintergründen und Möglichkeiten, viel entscheidender für die Aufteilung sind aber die Mentalitäten und die kulturpolitische Spaltung, die daraus hervorgeht, und die viel stärker emotional aufgeladen ist als der alte Antagonismus. 

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Dabei haben sich aber nicht links und rechts verschoben. Sondern Politik findet auf zwei verschiedenen Achsen statt, wie o.g. Grafik zeigt. Verschoben hat sich das Interesse der Bevölkerung und der Politik an bestimmten Themen. Nachdem der wirtschafts- und Sozialpolitische Konflikt durch den "Bonner Konsens" zwischen Union, SPD und FDP weitgehend befriedet wurde, ist durch die Entstehung der Grünen und eines neuen akademischen Milieus eine Opposition zur kleinbürgerlichen Gesellschaft entstanden. Diese Opposition hat etwa vierzig Jahre lang Einfluss auf das politische Klima im Land und in den Parteien genommen, bis sie es weitgehend geprägt hatte und mit der AfD eine neue Opposition dagegen entstanden ist. AfD und Grüne bilden die äußersten Enden des politischen Spektrums und treiben in einem neuen politischen Konflikt die anderen Parteien vor sich her; diesmal aber auf einer gesellschafts- und kulturpolitischen Ebene. 

 

Dieser Antagonismus ist aus der vollständigen Verkehrung dessen, was links und dessen was rechts ist entstanden: Dieser neue Antagonismus basiert zwar wie der alte Antagonismus auch auf unterschiedlichen ökonomischen Hintergründen und Möglichkeiten, viel entscheidender für die Aufteilung sind aber die Mentalitäten und die kulturpolitische Spaltung, die daraus hervorgeht, und die viel stärker emotional aufgeladen ist als der alte Antagonismus. Die Unterrepräsentierten und Verachteten sind immer noch die "kleinen Leute", die Arbeiter und diejenigen die in weniger guten sozialen und ökonomischen Bedingungen leben. Seit die "linken" Parteien von Akademikern und Gutgestellten geprägt sind, haben sie das Interesse an den einfachen, kulturell konservativen Leuten v.a. im ländlichen Raum und denen, die nicht so diplomatisch reden, verloren. Die AfD hat diesen Teil der Bevölkerung, der sich nicht mehr gesehen und nicht mehr repräsentiert fühlt, nach dem Spaltungsparteitag 2015 als Zielgruppe ausgemacht. Es macht sich zunehmend ein Gefühl breit, dass die öffentlichkeitswirksamen Personen, Institutionen und Parteien ihnen mehr schaden und mehr Sorgen bereiten, als dass sie ihnen zum Vorteil gereichen. Heute wählen die ökonomisch und sozial Gutgestellten "links" und die schlechter Gestellten "rechts". Das Parteienspektrum hat die Seiten gewechselt -- das Volk war einige Jahre lang verwirrt und hat sich dann neu aufgeteilt: Ein großer Teil der Armen stehen jetzt rechts und viele Reiche links. Das erste Opfer dieser Verschiebung ist die Linkspartei. Sie hat bis Anfang 2024 einen parteiinternen Kampf ausgetragen, ob sie auf der Seite der armen, ländlichen (ggf. östlichen) Bevölkerung stehen will oder auf der Seite der woken, großstädtischen Akademiker. Durch die Abspaltung des BSW hat sie ihre ursprüngliche Wählerschaft vollständig verloren, kann zugleich aber nicht in das distinguierte Großstadtmilieu der Grünen eindringen, weil sie dafür zu proletarisch wirkt. Sie ist nur noch in sechs Landtagen vertreten (darunter die drei Stadtstaaten) und in Umfragen bereits in vier der fünf ostdeutschen Flächenländer bei unter fünf Prozent 

    Die Parteien des "Bonner Konsens" haben dagegen ein ganz anderes Problem: Sie können sich zwischen zwei ideologisch aufgeladenen, populistischen und nicht kompromissfähigen Parteien nicht profilieren und werden entweder als Sympathisanten der einen oder der anderen Richtung und damit als Anhängsel oder Mehrheitsbeschaffer wahrgenommen. ... ​

 

Die Grünen sind die mächtigste Partei Deutschlands ​​​​​​​​​​​

Der Ausgangspunkt des Konflikts ist ein Machtungleichgewicht zwischen den beiden Wählerschaften/ Milieus, die durch die beiden Parteien repräsentiert werden.

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Die Grünen sind in den Landesregierungen überproportional vertreten. Sobald es die Grünen ins Parlament schaffen, werde sie von CDU oder SPD mit in die Regierung geholt. Die Grünen haben 17% der Sitze in Landtagen, haben aber 31% der Sitze im Bundesrat, weil sie in 73% der Landesregierungen vertreten sind und damit auf 71% der Stimmen im Bundesrat direkten Einfluss haben. DCU/CSU und SPD können jeweils nur mit 60% Stimmeneinfluss neue Gesetze der Bundesregierung blockieren. (Anm.: Im Bundesrat stimmen die Landesregierungen bestehend aus drei bis sechs Vertretern nur mit Ja oder Nein, wenn sich alle Parteien der jeweiligen Landesregierung bei einer Frage einig sind. Daher werden viele Gesetzte beschlossen, weil ein Großteil der Landesregierungen mit Enthaltung stimmt, da keine einheitliche Positionierung gefunden wurde). Bei Gesetzentwürfen einer Bundesregierung muss diese strategische Mehrheit der Grünen im Bundesrat immer mitbedacht werden. CDU/CSU ist nur in 9 von 16 Landesregierungen, die FDP gar nur in 2 von 11, bei denen sie es in den jeweiligen Landtag geschafft hat. Für einen vorübergehenden Zeitraum fällt dies nicht ins Gewicht, aber als Dauerzustand bemerkt die Bevölkerung, dass es ein Machtungleichgewicht gibt, das das gesellschaftliche Klima beeinflusst: Die Stimmung in der Politik ist anders als die Stimmung in der Bevölkerung. Selbst in Ländern mit deutlich anti-grüner Stimmung in weiten Teilen der jeweiligen Bevölkerung (vor allem in den östlichen Ländern) werden die Grünen in die Regierung geholt, weil die Optionen für eine bürgerliche Koalition prozentual kaum noch gegeben sind (einzige Ausnahme ist Bayern). Die politische Schieflage wird dadurch weiter verstärkt und noch mehr bürgerliche Wähler fühlen sich wenig repräsentiert und die parlamentarische Notwendigkeit mit den Grünen zu koalieren nimmt weiter zu. Das ist ein Teufelskreis, aus dem keine Partei ausbrechen kann ohne die sichere Spaltung der eigenen Partei zu riskieren. Denn aus diesen Teufelskreis auszubrechen würde bedeuten (vor allem für die CDU/CSU) sich neue Mehrheiten zu suchen. Aber gleich mehrere Parteien wären davon betroffen: nicht nur CDU/CSU sind regional zerrissen zwischen Tendenzen Richtung "grünes Lager" oder "blaues Lager", auch FDP und vor allem die bisherige Linkspartei. 

Es geht um das grüne Milieu, nicht die grüne Partei

Strategien gegen die AfD scheitern seit zehn Jahren daran, dass die Analysen falsch sind. Die politische Einordnung der AfD ist ebenso falsch wie die angeblichen Beweggründe ihrer Wähler. Anstreben tut AfD in aller Regel nicht die Volksgemeinschaft der 30er Jahre, sondern die kleinbürgerliche Gesellschaft der 60er, 70er Jahre. In dieser Gesellschaft sind die meisten AfD-Politiker aufgewachsen und sehnen sich nach dieser überschaubaren Welt zurück, in der jeder seine feste Rolle hatte und die Gesellschaft noch gegen die kleine Gruppe der 68er zusammenstand, während heute ein großer Teil des heutigen Kleinbürgertums mit den geistigen Enkeln der 68er (Grünen-Politiker, Klimakleber, woke Menschen in Medienbranche und Bildungsinstitutionen) sympathisiert. Ein Großteil der Analysen der AfD und ihrer Wählerschaft werden von Wissenschaftlern, Journalisten und Mitarbeitern von Organisationen getätigt, die sich wohl selbst dem grünen Milieu zurechnen würden oder zumindest soweit von diesem Weltbild und Lebensstil erfasst sind, dass ihre Erklärungsansätze weltanschaulich geprägt sind. Für eine zutreffende Analyse müsste man sich eingestehen, dass die Übermacht des eigenen grünen Milieus so überproportional groß ist, dass viele andere Menschen sich missachtet und verachtet fühlen, weil ihr Weltbild und ihr Lebensstil in der "veröffentlichten Realität" kaum wiedergegeben werden --- und wenn, dann in einem negativen Frame. Die 68er-Bewegung war eine ebenso kleine Gruppe wie die "woke Jugend" heute. Der Einfluss beider Gruppen reicht/e aber weit über das eigene Milieu hinaus, während der große Rest der Gesellschaft keinen Einfluss auf diese Gruppen hatte und hat. "Klimakleber" und grüne Bundesminister haben eines gemeinsam mit der 68er-Bewegung: Sie kritisieren den Lebensstil und die Wertvorstellungen "normaler Bürger" von oben. Der Saturierte sagt dem Unsaturierten, dass weniger mehr ist. Autofahren und Fleischessen seien zu viel, generischen Maskulinum und zwei Geschlechter seien zu wenig, Eigenheim und Malle-Urlaub sind Ressourcenverschwendung. Wer nun aus einer Akademiker-Familie stammt, die schon im 19. Jahrhundert zu den Großindustriellen gehörte, der findet wohl keine Genugtuung mehr in diesem (materiellen) Lebensstil, wer aber erst vor einer Generation aus der Industriearbeiterschaft hervorgegangen ist, der strebt diesen Lebensstil erst noch an. So wie Entwicklungs- und Schwellenländer erst noch CO² ausstoßen wollen, bevor sie es einsparen. Der Transfer von Wissen, Forderungen und Aggression war und ist einseitig und die Bevölkerung suchte damals und sucht erneut Abhilfe bei der Politik.

     Während aber damals alle Parteien geschlossen auf der Seite der großen Mehrheit standen, stehen heute drei Parteien deutlich auf der Seite der kleinen Minderheit und zwei weitere Parteien teilweise auf deren Seite. Nur eine Partei stellt sich eindeutig gegen diese kleine Minderheit. Der Zuspruch zur AfD steigt und sinkt je deutlicher jemand diese kleine Minderheit ablehnt, je aggressiver diese sich gegen die Gesellschaft richtet und je notwendiger von der Gesellschaft ein Gegengewicht eingefordert wird. Das grüne Milieu nötigt Autofahrer und ist zugleich Teil der Bundesregierung. Die Aggression der Klimakleber richtet sich wie schon bei den 68ern nicht gegen die Regierung, sondern gegen die Gesellschaft und den Lebensstil der "normalen Leute" -- und wird durch Teile der Regierung sogar gutgeheißen. Der gegenwärtige Zuspruch zur AfD ist in dem Eindruck begründet, die Regierung stelle sich gegen die Bevölkerung; sie schade und belaste/belästige mehr als Schaden abzuwenden. Abhilfe von Klimaklebern durch Staatsorgane erfahren die Bürger kaum, Genugtuung überhaupt nicht. So steht als einziger politischer Adressat für das Ohnmachtsgefühl die AfD, die sich als einzige glaubhafte Vertretung anti-grüner Politik präsentiert. Der Zuspruch zur AfD steigt im selben Maße wie andere Parteien keine glaubhafte Abhilfe versprechen: d.h. Eindämmung der Übermacht dieses Milieus. 

Die AfD ist das Symptom einer Krankheit

Die AfD ist das Symptom einer Krankheit. Die Krankheit heißt Missrepräsentation. Menschen wählen eine Partei oder eine Person aus zwei Gründen: Weil sie so redet, wie man selbst denkt und/ oder weil sie einem selbst ähnlich wirkt weil sie einen ähnlichen sozialen/ kulturellen/ wirtschaftlichen Hintergrund hat. In den Parlamenten in Deutschland auf Bundes- und Landesebene sind bestimmte soziale Gruppen aber gegenüber der Bevölkerung deutlich über- und andere deutlich unterrepräsentiert: überproportional viele Akademiker, Wohlhabend-Geborene, Juristen und Unternehmer, Menschen, die in einer städtischen Umgebung leben, Kinder aus Bourgeoisie und Bohème. Proportional deutlich unterrepräsentiert ist der ökonomisch und sozial untere Teil der Gesellschaft, der im ländlichen oder randstädtischen Bereich lebt, sein Geld schwer verdienen muss und sein alltägliches, überschaubares Leben mit Wandern, Grillen, Autowaschen und Garagenpartys gerne lebt (Strukturkonservatismus). Viele dieser Unterrepräsentierten betrachten die äußeren Einwirkungen durch Politik und externe Gesellschaft als Störung ihres gewohnten Lebens. Die Überrepräsentierten hingegen empfinden diese äußeren Einwirkungen auf ihr Leben hingegen als Bereicherung, Orientierung, Schaffung einer Ordnung in einer ungeordneten Welt. 

     Symptome gehen weg, indem man die Krankheit heilt. Die AfD ist das Symptom und versucht die Krankheit selbst zu heilen, indem sie entsprechendes Personal aufstellt und Mitglieder anzieht und eine Politik betreibt, die die Unterrepräsentierten repräsentieren soll. Die anderen Parteien bekämpfen das Symptom AfD und nicht die Krankheit. Und weil die Untersuchung falsch ist, ist auch die Behandlung falsch. Die herabwürdigende Behandlung der AfD-Wähler und ihrer Interessen und Wünsche ist die Chemotherapie. Nachdem erst die "linken Parteien" und nun auch die "konservativen Parteien" wesentlich von der personellen und inhaltlichen Repräsentation des unteren Teils der Gesellschaft Abstand genommen haben, sehen viele derer die AfD als einzigen Repräsentanten ihres Lebensmodells. Repräsentation bedeutet dabei nicht, dass der Repräsentant als Klon des zu Repräsentieren empfunden werden muss; aber in grundsätzlichen Merkmalen des Lebensstils, der Weltbetrachtung und des sozio-ökonomischen Hintergrundes will sich ein Wähler in einem Repräsentanten wiedererkennen. Er hat dadurch eine höhere Erwartungshaltung, dass Politik in seinem Interesse gemacht wird. 

     Die Avantgarde der Missrepräsentation dieses Milieus sind die Grünen. Sie repräsentieren ihre eigenen Wähler sehr gut, dienen aber anderen Parteien v.a. im "linken" Spektrum in kultureller und medialer Hinsicht stark als Vorbild, da deren Führungsebenen in einem ähnlich saturierten Umfeld leben wie die Grünen und deren Wähler. Diese Parteien (auch Teile der CDU) entfernen sich damit von dem Milieu, das sie zu repräsentieren gewohnt waren, und das daran gewöhnt war, von diesen Parteien repräsentiert zu werden. 


Die Grünen haben viele Jahre lang eine Strategie der Dämonisierung der AfD betrieben und waren unter den externen Faktoren wesentlicher Akteur, die AfD so weit nach rechts zu scheiben wie sie heute steht. Zuerst waren sie es, die nach einer neuen Existenzberechtigung gesucht haben. Sie brauchten ein neues Feindbild nachdem Hitler-Abscheu gesellschaftlicher Konsens war und die NPD keine normalen Menschen mehr erreichen konnte. Das neue Feindbild war die AfD, vor der die Menschen viel mehr Angst hatten als sie nur die Finanzpolitik neu organisieren wollte, als jetzt, wo sie eine aggressive Rhetorik gegenüber Teilen der Gesellschaft entwickelt hat. 

     Diese Strategie der Grünen könnte ihnen nun auf die Füße fallen: Wenn die CDU zu der Erkenntnis gelangt, dass sie zwischen Grün und Blau zerquetscht wird, wird sie den Befreiungsschlag versuchen und wird sich von den Grünen distanzieren (weil die grüne Wählerschaft strukturell kleiner ist als die der AfD), sich gegen dieses Milieu und den Lifestyle abgrenzen und die Grünen politisch bekämpfen -- nicht um Wähler von den Grünen oder der AfD zu bekommen, das wird so nicht funktionieren, sondern nur um ihren Status zu wahren und ihren historischen Status als einen der Antipoden nicht vollständig zu verlieren. Die Grünen könnten damit auf Dauer einen existenziell wichtigen Koalitionspartner verlieren, den sie sich über Jahrzehnte fügsam gemacht haben. 

     Statistischer Wählerbefund

Die Ergebnisse der Wahlen 2023 und 2024 (EU-Wahl, LTWs in Bayern, Hessen, Sachsen, Thüringen und Brandenburg) haben deutliche Zuwächse der AfD in der jüngsten Wählergruppe und deutliche Verluste für die Grünen offenbart. Ein noch deutlicheres Bild ergibt sich bei den U18-Wahlen (teilweise als U16-Wahl durchgeführt), die jeweils eine Woche vor der regulären Wahl durchgeführt werden. 

Die AfD ist mehr ein kulturelles denn ein politisches Phänomen. 

Jeder Mensch gehört einer gesellschaftlichen Untergruppe an: er sieht sich selbst dieser zugehörig oder wird einer solchen zugeordnet. Jede gesellschaftliche Untergruppe mit ihrer jeweiligen Kultur hat eine politische Repräsentation durch Parteien, Vereine, Organisationen und Institutionen und vor allem durch Symbole: Linke, Konservative, Migranten, Muslime, Religiöse, Großstädter, LQBT-Personen, Reiche und Arme usw. All diese Gruppen haben durch ihre politische Repräsentation Symbole, durch die ihre Gruppenzugehörigkeit greifbar gemacht wird und die daher identitätsstiftend wirken. 

Nur eine Gruppe hat keine politische Repräsentation und keine Symbole und empfindet daher auch keine Gruppenzugehörigkeit: Die sog. normalen Leute/ die gewöhnlichen Leute/ der Kleine Mann/ die (untere) Mittelschicht/ die hart arbeitenden Leute. 

In der Bonner Republik war die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Untergruppen wie Arbeiter vs. Dienstleistungsbeschäftigte, Katholiken vs. Protestanten, Städter vs. Menschen im ländlichen Raum, Norden vs. Süden weitgehend befriedet, weil jede Gruppe ihre politische Repräsentation hatte und die Zugehörigkeit war nicht (bzw. noch nicht/ nicht mehr) so sehr identitätspolitisch aufgeladen. Noch in den 2000er Jahren war sich ein Großteil der Gesellschaft einig in ihrer Ablehnung von Abweichungen von der kulturellen Norm und fand Unterstützung durch Parteien und Organisationen sowie Führungspersönlichkeiten wie Bürgermeister, Chef oder Vereinsvorsitzenden. Es gab einen gesellschaftlichen Konsens, dass es keinen Bedarf für die Etablierung von gesellschaftlichen Untergruppen gibt. Zugleich aber gab es bereits gesellschaftliche Untergruppen und Mitglieder dieser Gruppen empfanden, dass sie anerkannt werden sollten als nicht der Norm entsprechend. 

Im Laufe der Jahrzehnte zwischen den 1970ern und den 2000ern entstanden immer mehr gesellschaftliche Untergruppen ("Subkulturen"), die teilweise in Konflikt mit anderen Untergruppen standen, aber vor allem gegen die gesellschaftliche Norm rebellierten: die 68er, die Friedensbewegten, die Umweltbewegten mit ihrer Weltschmerz-Mentalität, Punks, Skinheads, Neonazis, Emos, LGBT-Szene, migrantische Communitys, identitäre Muslime usw. Auf die politische und gesamtgesellschaftliche Anerkennung der Bedürfnisse der Angehörigen dieser Gruppierungen folgte Integration in die Gesamtgesellschaft und sie wurden als Teil eines neuen "Normal" betrachtet. Mit der zunehmenden Etablierung des neuen "Normal" verloren aber diejenigen, die sich bisher und noch gegenwärtig als "normal" betrachten ihren Status als gesamtgesellschaftlich Prägende. Ein Teil dieser Gruppe begehrt nun auf und entscheidet sich für die AfD als größtmögliche Rebellion gegen ihren Statusverlust. Die AfD hat diese Gruppe als potenzielle Wählerschaft entdeckt und bereits im Bundestagswahlkampf 2021 plakatiert "Deutschland. Aber normal", und scheint seitdem Leitmotiv des Campaigning zu sein. Dieses Framing, ihre Politik als den Wunsch zur Wiederherstellung der Normalität und die Gegenwart als "unnormal" darzustellen, zielt darauf ab, jegliche andere Politik zu delegitimieren. 

Nur wenige Politiker von nationaler Bekanntheit scheinen ein so gewöhnliches Leben zu führen, dass sie von den gewöhnlichen Leuten als Repräsentanten ihrer Kultur und ihrer Subgruppe anerkannt werden. Die AfD hat diese riesige Repräsentationslücke, die sicherlich mehr als die Hälfte der Gesamtgesellschaft ausmacht, erkannt und füllt sie zunehmend aus indem sie das Normale und das Gewöhnliche zu politischen Kampfbegriffen macht. Sie arbeitet dabei sehr stark mit den Symbolen der normalen Gesellschaft. Symbole entfalten ihre Wirkung am besten wenn sie einen möglichst geringen Rahmen haben und das Symbol selbst schon Zugehörigkeitsgefühl oder Ablehnung hervorruft. Diese Symbole wirken daher besonders gut in den Sozialen Medien. Nur in diesem Kontext kann Weidels Satz "Niemand nimmt mir mein Schnitzel weg!" eine solche Bekanntheit erreichen. Das Schnitzel ist vielleicht das größte Symbol der normalen Leute. Auch die Freien Wähler, die CSU und das neue BSW kennen diese riesige kulturelle Repräsentationslücke und versuchen sie auszufüllen. Auch sie versuchen, das Gewöhnliche zu politisieren, weil sie erkannt haben, dass die gewöhnlichen Leute zunehmend eine kulturelle Gruppenidentität entwickeln, die genauso politisch abrufbar sein kann wie die Partikularidentitäten für die Grünen und die bisherige Linkspartei abrufbar waren. 

Diese Konterrevolution von rechts betrifft den gesamten "Alten Westen" und hat nur als letztes zum Aufstieg der AfD geführt, nebst zur Wahl von Trump in Amerika, von Meloni in Italien, von Wilders in den Niederlanden, zum Aufstieg des Rassemblement National und zum Brexit. Auch Nationen, die an diesen Alten Westen angrenzen, entwickeln eine Anti-Haltung zu diesem neuen Normal und dem "Alten Westen", den sie durch die Überrepräsentation der Subgruppen symbolisiert sehen, wie Russland, Ungarn und Polen. In diesen Staaten sind "die Normalen" noch weitgehend politisch repräsentiert und der gesamtgesellschaftliche Konsens über die Ablehnung von Subgruppen ist noch weitgehend gegeben. Während in vielen "altwestlichen Staaten" Subgruppen institutionell gefördert werden, bauen viele "neuwestliche Staaten" ihre Staatsdoktrin auf "nationale Einheit" auf -- nicht nur aus der Erfahrung, dass ihre Nationswerdung nach den ethnischen Säuberungen, durch den kommunistischen Block unterbunden wurde, sondern gegenwärtig vor allem als Gegenkonzept zum "Alten Westen", den sie in einem kulturellen Niedergang sehen. Auch der Islamismus, der mehr kultureller als religiöser Art ist, ist eine Reaktion auf eine Durchschnittsgesellschaft, die keine kulturellen Fürsprecher mehr hat, während es den Anschein macht, als wären die Repräsentanten der gesellschaftlichen Untergruppen die üblichen Vertreter der Gesellschaft insgesamt. Nach der Ruhe in der Bonner Republik und in der DDR kehrt die Aufregung um den inner-gesellschaftlichen Gegensatz zwischen den "Normalen" und den "Besonderen" aus der Weimarer Republik zurück. Sie führt wieder zu gesellschaftlichem Konflikt und politischer Identitätsbildung. 

Die "normalen Leute" mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten fühlen sich wohl seit etwa 25 Jahren kulturell nicht mehr repräsentiert, seit dem Übergang der letzten Kohl-Regierung zur rot-grünen Bundesregierung, die die erste war, die wieder eine eigenständige Kontinental- und Weltpolitik betrieb. Durch diesen Übergang von einer sich selbst kleiner machenden, sich selbst genügenden Bonner Bundesrepublik zu einer sich selbst größer machenden Berliner Bundesrepublik mit Reisekanzlern und Reiseministern fühlten sich die "normalen Leute" nicht mehr relevant. 

Die gesellschaftliche Gruppe der "normalen Leute" bzw. der Kleinbürgerlich-Konservativen, die sich "Normalität" und Anerkennung wünschen, ist dabei größer als die bisherige AfD-Wählerschaft. Die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst 2024 haben gezeigt, dass das BSW nicht etwa von der AfD Wähler abwirbt, sondern von den "linken" Parteien

Allein die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts durch Rot-Grün hat zu einer fundamentalen Resignation über den neuen Status der eigenen Gruppe in der Republik geführt: Die gewöhnlichen Leute finden sich zunehmend in einem Konkurrenzverhältnis mit anderen Gruppen um die Gunst der Politik(er) wieder. Sie sind nun nicht mehr einziger Adressat von Adressant an Politik. 

Der durchschnittliche AfD-Wähler sieht sich nicht als konservativ oder als rechts, er sieht sich als normal. Und er wünscht sich die Wiederherstellung eines gesellschaftlichen und politischen Normalzustandes. Zunächst aber will er seinem Frust über die ihn bislang verachtende Politik Ausdruck verleihen. Die bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP sind für ihn derzeit kein attraktives Angebot, weil sie das Lebensmodell des "normalen Bürgers" nicht in ausreichendem Maße teilen; sie reden darüber, aber leben es nicht selbst. 

Der durchschnittliche AfD-Wähler hört Wolfgang Petry, ACDC, Bon Jovi oder Roland Kaiser, nicht Marlene Dietrich oder Zarah Leander. Er wünscht sich die kleinbürgerliche Gesellschaft der 70er- und 80er-Jahre zurück, in der er aufgewachsen ist, nicht die Volksgemeinschaft der 30er-Jahre. Bislang hat AfD den 80er-Jahre-Konservatismus abzulegen (indem sie dessen innerparteiliche Befürworter in den Hintergrund drängt) und eine modern-rechte Utopie einer idealen Gesellschaft zu propagieren, um auch bislang nicht dezidiert rechts denkende (junge) Menschen attraktiv ist, wird sie dieses Land und diese Gesellschaft vermutlich sehr lange prägen. Das Narrativ, eine neue, wunderbare Gesellschaft zu erschaffen, haben bereits die Grünen in den vergangenen Jahrzehnten gesetzt. Aber je mehr sich die reale Gesellschaft der Utopie angenähert hat, desto mehr sind Konflikte entstanden. Die meiste Zeit wurde diese neue Gesellschaft aus ideologischen Gründen abgelehnt, mittlerweile aber wird sie vor allem aus lebensweltlicher Erfahrung abgelehnt, weil die Etablierung der neuen Ideale top-down geschieht und die Bürger regelmäßig hören, sie würden die Politik nur nicht richtig verstehen. Sollte aber die Etablierung der neuen gesellschaftlichen Ideale nicht den Eindruck machen, als würden sie durch die AfD oktroyiert, sondern von der einfachen bis mittleren Gesellschaft selbst entworfen und gestaltet, so würde sie sehr viel mehr Akzeptanz und Toleranz in der gesamten Gesellschaft erzeugen. 

Dieser Zug fährt bereits. Die Herausforderung für die anderen Parteien und politischen Akteure besteht darin, auf diesen Zug rechtzeitig aufzuspringen und der Gesellschaft ein Angebot zu unterbreiten, das weniger fundamentale Veränderung bedeutet. In jedem Fall wird die AfD nicht bei der Wiederherstellung eines ehemaligen Normalzustandes enden, sondern wie jede Partei aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus fortlaufend Neuerungen und Veränderungen verwirklichen wollen. Wie jede gesellschaftliche Verschiebung wird ein Teil der Gesellschaft zunehmend der Veränderung überdrüssig werden und diese als zu viel ansehen, sodass der Zyklus der Ideologien sich weiterdreht. Dann erneut besteht für andere Parteien die Chance, die Gesellschaft wieder nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Frage ist, ob die anderen Parteien dann noch ausreichend Spielraum haben, um ihre Vorstellungen zu bekanntzumachen, oder ob die AfD ihre Politik derart radikal umsetzt, dass andere Parteien zu wenig Zugang zur Öffentlichkeit haben. In derselben Situation befindet sich bislang die AfD, weshalb sie auf die Sozialen Medien als Kanal zum Zugang zur Öffentlichkeit fokussiert hat. 

Wie kann nun mit dem Konflikt umgegangen werden? 

     Die AfD ist viel mehr abhängig von der Existenz der Grünen und des grünen Milieus an den Schaltstellen der gesellschaftlichen Meinungs-bildung als die Grünen von der Existenz der AfD. Das "blaue Milieu" hat kaum Einwirkung auf die gesellschaftliche Meinungsbildung, insbesondere seit sich diese Menschen an die AfD gewandt haben. Das blaue Milieu ist absolut parteitreu (ein Großteil der AfD-Wähler würde keine andere Partei mehr wählen), während das grüne Milieu eher milieutreu ist: AfD-Wähler haben ihre gesellschaftliche Identität stark an abstrakte politische Akteure der Bundespolitik geknüpft, während Grünen-Wähler sich viel mehr über ihr reales soziales Umfeld identifizieren. Da die AfD ihr gegenwärtiges Wählerpotenzial so stark ausgeschöpft hat wie keine andere Partei und selbst in größten Krisen die Umfragen für die Partei nicht mehr unter 15 Prozent sinken, ist ein Großteil der AfD-Wähler mittelfristig nicht mehr abwerbbar. Die AfD auf andere Weise als auf demokratischem Wege zu minimieren würde wohl dramatischere gesellschaftliche Folgen haben als die Entstehung der APO in den 1970er Jahren. 

Notwendig ist daher ein Interessenausgleich zwischen den Extremen. Die Wählerschaft der AfD setzt sich wesentlich aus Menschen zusammen, die früher andere Parteien gewählt haben, so wie einst auch bei den Grünen. Mittlerweile gibt es grüne Stammwähler in der dritten Generation, die dennoch gesellschaftlich integriert sind. Auch die AfD baut sich eine Stammwählerschaft auf, diese allerdings ist in die Gesellschaft (auf einer Metaebene) nicht integriert und opponiert gegen sie. 

Solange bestimmte Politikfelder nicht verhandelt werden, sodass die sozialen Bedürfnisse verschiedener gesellschaftlicher Milieus unbefriedigt bleiben, ist eine weitere Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung zu erwarten. 

Das Ziel, die AfD zu bekämpfen, wird daher verfehlt werden, da sie Zustimmung von einem wachsenden Teil der Bevölkerung erhält. Das Ziel muss sein, die gesellschaftliche Spaltung in Unterrepräsentierte und Überrepräsentierte zu verringern. Nur wenn jeder Bürger das Gefühl hat, dasselbe Meinungsgewicht wie jeder andere Bürger zu haben, und wenn jedem Bürger dieselbe moralische Anerkennung zuteil wird, kann der Konflikt verringert werden. Diesen Konflikt zu verringern ist Voraussetzung für eine externe Entschärfung der AfD. 

Wenn die AfD scheitert, ihre bisherige kleinbürgerlich-konservative Wählerschaft um eine durch sie geprägte neurechte Jugend zu erweitern

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November 2024 

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